Das verborgene Wort
Glaskasten und kramte fahrig zwischen Papieren. Ein Mann, dessen dunkles Haar in eine Welle gekniffen war wie auf der Dralle-Reklame, zog Notizblock und Stift aus der Innentasche seines Sakkos und einen Gegenstand, wie ihn die Lehrerin mitunter beim Turnunterricht in der hohlen Hand hielt. Eine Stoppuhr. Er fixierte Lore Frings, drückte den Knopf, als sie gerade ein Röhrchen in die Schachtel schob, zählte lautlos, bis Lore dies zehnmal wiederholt hatte, drückte dann wieder und schrieb etwas auf. Das wiederholte sich bei etlichen Frauen und bei allen Arbeitsgängen. Er kam immer wieder, vor der Mittagspause, vor der Kaffeepause und kurz vor Schluß. Der Mann hieß Refa-Mann. Was das be-deutete, wußten die Frauen nicht, doch was sein Kommen ankündigte, war ihnen klar: Entweder das Band wird schneller geschaltet, oder es werden Frauen entlassen, oder beides. Gekündigt wurde im Herbst. Dann mußte die Firma kein Weihnachtsgeld zahlen und konnte im Januar wieder neue Kräfte einstellen. Jut, dat dat Dunja weg es, sagten wir. Alle hatten Angst. Nur Änni trällerte drauflos, kaum daß der Refa-Mann die Türklinke in der Hand hatte. Ein paar Takte hörte er noch: >Met us mät mer nit mieh dä Molli, met us han se lang jenuch de Aap jemaat.< Sie würde im Oktober heiraten und bei den Schwiegereltern unters Dach ziehen. Ein eigenes Haus hatte sie nicht, aber einen eigenen Mann. Einer, der der Meinung war: Die Frau gehört ins Haus. Änni würde bequeme Schuhe tragen, kein Korsett mehr und essen, was ihr schmeckte. Sie hatte zugegriffen, auch wenn ihr Pitter nur einen blauen Kittel trug. Blauer Kittel, grauer Kittel, weißer Kittel, kein Kittel: bis sich einer ohne Kittel, einer vom Büro, einstellte, hatte sie nicht warten wollen. So wie Therese Böhl, die jetzt auf die Dreißig zuging und schon seit Jahren als Fertigmacherin schuftete. Was half es ihr, daß sie täglich ihr Kleid mit abknöpfbarem weißem Kragen und ebensolchen Ärmelaufschlägen ins Spind hing?
Dunjas Karte kam schon am Ende meiner zweiten Arbeitswoche, eine Ansicht von Rijeka, blauer Himmel, blaues Meer, gelbe Häuser mit flachen Dächern, Palmen. Liebe Frauen, schrieb Dunja, gerade auf Bahnhof gekommen. Sofort schreiben. Dann nach Hause. Dann wieder Karte. Tausend Grüße. Deine Dunja. Die Frauen waren gerührt. Fünf Tage war die Karte unterwegs gewesen. Rechnete man - großzügig - zwei Tage von Drebozyce bis Rijeka und dann wieder fünf Tage bis Dondorf, mußte die zweite Karte gegen Ende nächster Woche eintreffen. Es kam keine am Ende dieser, keine am Anfang der nächsten Woche. Es kam gar keine. Am Morgen meines vorletzten Arbeitstages standen die Frauen vorm Werkstor in einem dichten Halbkreis um Vroni herum. Dunja war wieder da.
Auf ihrem schäbigen Pappkoffer habe sie gestern vor Vronis Tür gesessen. Mit einem Gesicht wie de Engel op däm Kerschhoff. Dä Jong war nie in dem Heimatdorf aufgetaucht. Keiner wußte von Dunjas Rückkehr, ihre Eltern waren verreist, zu Ver-wandten, Dunja sofort hinterhergefahren. Die Eltern hatten nie etwas von einem Sowieso, also däm Kääl, gehört. Vroni schwieg. Die Frauen redeten durcheinander, Bedauern mischte sich mit schüchterner Schadenfreude. Sie hatten recht behalten. Und jetzt mußte man an die Arbeit. Moment noch! Ruhe! schrie Vroni. Et jeht noch weiter. So hatten die Frauen ihre alte Vroni noch nicht erlebt.
Dä Kääl es mit däm janze Jeld von dem Dunja weg. Totenstille. Die Fabriksirene. Sieben Uhr. Dä Kääl kostete uns alle eine Viertelstunde Lohn. Der Meister lief uns händeringend entgegen, wir rannten ihn fast übern Haufen.
Dä Kääl hatte in Großenfeld gewohnt. Eine schöne Wohnung habe er, hatte Dunja geschwärmt. Ein Foto zeigte sie auf einer riesigen Matratze, nicht Bett, nicht Sofa, inmitten eines Wusts von Kissen und Decken. Dahinter in einem Rankenrahmen ein fast ebenso großer Spiegel, der Dunjas Körper merkwürdig verzerrt zurückwarf.
Da hat sie doch was in der Hand, beschlossen die Frauen in der Mittagspause. Da mußte sie hin. Aber nicht allein.
Gleich nach der Arbeit fuhr Lore Frings mit Dunja nach Großenfeld. Noch am nächsten Morgen schüttelte sie sich vor Abscheu und Zorn. Das Haus, wo dä Kääl gewohnt habe, sei ein dreckiger Kasten, mit zig Namen an der Tür, in einer üblen Gegend. Dä Name von däm Kääl habe nicht drangestanden, aber Kanackennamen jede Menge, keine Deutschen. Et is jo och besser, die blieve unger sesch. Sie hätten aber die zweite
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