Das verborgene Wort
Klingel oben rechts gedrückt, wo dä Kääl seine Wohnung hatte. Niemand habe geöffnet, doch als sie gerade gehen wollten, sei ein Mann um die Ecke gebogen, der Dunja offenbar erkannt und auf dem Absatz kehrtgemacht habe. Dunja habe seinen Namen gerufen und sei hinter ihm her, aber nur ein paar Schritte. Zwecklos. Dann hätten sie noch einmal geklingelt, und sie, Lore, habe den Finger nicht mehr runtergenommen von dem Klingelknopf. Dunja, kalkweiß, regungslos, habe von Zeit zu Zeit gewinselt wie ein kranker Hund. Endlich seien sie gegangen. Dunja wohne jetzt bei ihr. Sie wolle in der Pause im Büro fragen, ob sie wieder bei uns anfangen könnte.
Lores Nachfrage wurde abgewiesen. Überhaupt, das habe ihrdie Dicke aus dem Vorzimmer des Personalchefs gesteckt, würde es im Herbst Entlassungen geben. Alle Frauen könne man wohl nicht mit ins neue Jahr nehmen. Etwas Genaues wisse man aber noch nicht. Wer jute Arbeit leistet, hat dat decke Minsch för mesch jesäät, dä muß och ken Angst han. Jute Arbeit! Lore lachte bitter. Dä Schwabbel möt esch ens he an dem Dösch sin. Nur för ene Daach!
Das Band ruckte an. Nach fast vier Wochen flogen mir die Röhrchen beinah wie von selbst in die Schachteln. Dä Kääl, der die Frauen in erster Linie beschäftigte, war mir gleichgültig.
Der Name war falsch, das glaubte ich auch. Dä Kääl würde man nicht finden. Aber der seine Strafe. Das war mir von der Bibel bis Zane Grey, Sherlock Holmes bis Shakespeare, von den Brüdern Grimm bis Schiller ein zuverlässiger Trost, ein Menschenrecht sozusagen. Auch wenn den Unschuldigen Unrecht geschah, siegte am Ende die Gerechtigkeit; das war für mich Naturgesetz.
Kümmern mußte man sich um Dunja! Betrogene Frauen mit gebrochenem Herzen kannte ich. Sie zogen sich auf ein Landgut zurück oder ins Haus ihrer Eltern und verzehrten das kleine, aber ausreichende Vermögen einer im rechten Augenblick verblichenen Tante. Dunja aber stand mann- und mittellos da. Hätte sie ihm doch bloß nit dat Jeld jejävve! Dat schöne Jeld, dat ville Jeld, jammerten die Frauen. In welchem Buch wurde eine Frau vom Liebsten um Liebe und Geld betrogen? Ich mußte es lesen.
Die gläserne Flügeltür der Fabrik war nur halb geöffnet. Zu beiden Seiten winkten Männer in grauen Kitteln, Vorarbeiter, wahllos Personen aus der sich mühsam vorwärtsschiebenden Schlange beiseite und kramten in deren Taschen. Dat machen die hier von Zeit zu Zeit, klärte Frau Stickler mich auf. Wat solle mer dann he schon mitnehme? Dat Jeftzeusch hie?
Ach, dat es doch dat Weet vun dem Kringiis Maria. Der rechte Graukittel zupfte mich am Ärmel. Wat mäs du dann he? Isch denke, du jehs op de hühere Schul.
Ja, das tue ich auch, erwiderte ich in meinem höchsten Hochdeutsch. Ich bin hier nur in den Ferien.
Schöne Ferien, der Mann ließ nicht locker. Es war Herr Kluck, dessen Sohn mit mir die Aufnahmeprüfung für die Realschule gemacht, aber nicht bestanden hatte. Häs de nix Besseres ze dunn, als Pelle ze packe? Esch denk, du häs nix angeres em Kopp als läse?
Die Leute hinter uns begannen zu murren. Der schleppende Gang der Schlange geriet ins Stocken, man wollte dabeisein, wenn Kluck mich beim Klauen erwischte. Er stocherte in meiner Schulmappe, seine gelbgrauen Hängebacken wabbelten wie die Lefzen eines Hundes. Ja, wat hammer denn da? Triumphierend schwenkte er die Beute über seinem Kopf, hielt sie dicht vor die Augen und buchstabierte mit schallender Stimme: >Liebe - Brot der Armen<. Hahaha. Kanns de mer ens sage, wat de he met nem Booch wellst? He werd jeärbeet, nit jeläse. Dat Booch bliev he!
Hören Sie, Georg, der hinter mir gestanden hatte, trat dicht vor den Mann: Was Fräulein Palm in ihrer Tasche hat, geht Sie gar nichts an. Sie haben kein Recht, ihr das Buch wegzunehmen. Geben Sie ihr das Buch unverzüglich zurück. Unverzüglich! Vor diesem vornehmen Wort und Georgs Siegfriedgesicht wich Herr Kluck zurück. Wortlos und als habe er sich die Finger schmutzig gemacht, ließ er das Buch in die Tasche zurückfallen und winkte die Wartenden an sich vorbei.
Georg las Fachbücher. Kaum hatte ich einen Blick hineingetan, schlug meine Geringschätzigkeit in Bewunderung um. Einen Sinn, ja eine Schönheit, wie er mir versicherte, in diesen Kombinationen aus Ziffern, Buchstaben, Kurven, Linien, Wurzeln und Unendlichkeitszeichen zu finden, mußte einem größeren Geist als dem meinen vorbehalten sein. Viel zu sagen hatten wir uns nicht. Das Gefühl des Andersseins
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