Das verborgene Wort
Ohren. Lauter Sachen, die nicht in meinen Büchern standen. Wörter, die ich nie zuvor gehört oder gelesen hatte. Wörter, die es gar nicht geben durfte, Wörter des Teufels. Wörter für Jo Kackaller am Levisberg. Sie trafen auf meine Ohren wie Dreck. Ihretwegen konnte ich auch an den Geschichten keinen rechten Gefallen finden. Nie wußte man, wann ein solches Wort wiederkommen würde.
Na, da has de ja schon einen Verehrer, Lore puffte mich in die Seite. Ich sah sie verständnislos an. Ja, wat meins de denn, wer dir dat Fußbänksche do ungerjeschove hät. Dat war doch dä Jeorsch, dä Student, dä arbeitet hier im Lager. Dat is ene komische Kääl. Ävver nett. He, Jeorsch! Lore streckte sich und winkte zur Ecke hin, wo die Männer standen, Komm mal her, dat Heldejaad well danke sagen. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, undbiß in mein Brot. Auch Georg fuhr fort, in den Staub zu zeichnen und zwei Arbeitern etwas zu erklären.
Am Nachmittag blieb die Zeit stehen. Die Handgriffe wurden selbstverständlicher. In meinen Kopf gelangten sie nicht. Hier war ich fast so sicher wie bei meinen Büchern im Holzschuppen oder hinter dem Hühnerstall. Ich mußte eben Leib und Seele auseinanderhalten, mein Körper eine Festung für meine Seele, für mein Denken und Fühlen. Lief das Band erst einmal in meinem Kopf, drehte es seine Runden nicht nur durch die Halle, sondern auch durch mein Gehirn, meine Nerven, jede einzelne Zelle. Das war dann zum Verrücktwerden. Nicht auszuhalten. Doch ich hatte ja meine schönen Wörter und Sätze, sie waren frei, die Gedanken, und wär ich in Ketten an dieses Band geboren. Ich ließ sie herumstreunen, spornte sie an mit kleinen Geschichten, kniffligem Unsinn, sagte Gedichte auf. Dachte, was die zittrige Frau wohl tun würde, wenn sie nach Hause käme, hatte sie einen Mann, ja, sie trug einen Ring; kochte sie ihm abends noch warmes Essen, mußte sie dabei zittern wie hier; hatte sie Kinder, warum ging sie arbeiten, wo sie doch einen Mann hatte? Manchmal lachte ich vor mich hin oder laut heraus, dann tippten die Frauen sich an die Stirn. >Et Drömersche< nannten sie mich, >Träumerlein<. Sie akzeptierten mich, solange meine Hände das Tempo hielten, ich ihnen keine Scherereien machte. Doch nicht für den Bruchteil einer Sekunde durfte ich die Augen von Röhrchen, Schachteln, Fließband wenden. Alles konnte mich aus meiner Versunkenheit reißen: eine Geruchswolke, ein krachend zurückgeschobener Stahl, ein Sonnenkringel an der Wand.
Siebzehn Uhr. Das Band stand still. Ich rührte mich nicht. Es dauerte, bis Kopf und Körper wieder zusammenfanden. Meine Schultern schmerzten, die Beine kribbelten und krampften. Die Fingerspitzen waren taub. Heldejaad, wills de denn nit heem jonn? Lore stand als letzte an der Tür. Dat häs de joot jemaat, sagte sie, als ich meinen Kittel ins Spind hängte. Laut, so daß es alle hören konnten: Do kann sesch mansch eener en Schiev vun affschnigge.
Draußen empfing mich blauer Sommerhimmel, wie ein riesiger Lärmschutz wölbte er sich über mir, weich und schall-schluckend. Und Georg. Er nestelte an seinem Schuh und richtete sich genau in dem Augenblick auf, als ich an ihm vorbeikam. Georg war schön wie Siegfried auf den Sanella-Bildern, die der Bruder sammelte. Statur, Gliedmaßen, Kopf, alles hatte das rechte Maß; blond, blaue Augen, Haut, so zart und kaum bewachsen, die Farben kräftig, ohne bunte Übertreibung. Er trug ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, Nietenhosen und Mokassins, einen hellblauen Pullover über den Schultern.
Danke für die Kiste, murmelte ich schüchtern.
Ach was, sagte er, wir Akademiker müssen doch zusammenhalten. Sein Lachen entblößte ebenmäßige Zähne im Oberkiefer, unten standen sie zu dicht und unregelmäßig, wie bei mir.
Übrigens, ich heiße Georg. Georg Schöne. Er reichte mir die Hand und machte eine Verbeugung. Ich muß zur Straßenbahn. Und du? Hast du den Tag überstanden?
Nur gut, daß ich doch den Rock mit den Kreuzstichgänsen angezogen hatte, obwohl er nun vom langen Sitzen zerknittert war.
Es war aufregend, mit Georg durchs Dorf zu gehen. Die Tante fiel beinah vom Rad, als sie sich in voller Fahrt nach uns umdrehte, ihre Richtung änderte und auf unser Haus zuhielt. Georg studierte in Köln, Mathematik im dritten Semester, und wohnte in Möhlerath bei seiner Mutter. Geschwister hatte er keine, seinen Vater nie gekannt. Georg hatte eine warme, dunkle Stimme und eine Aussprache, fast so schön
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