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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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wie Geffken. Würde er mich zu einem Eis in Haases Café einladen? Heute war alles möglich. Ich hatte mein erstes Geld verdient und war mit einem schönen Studenten durchs Dorf gegangen. Wirklich. Nicht im Buch. Leibhaftig. Erwachsen. Aber Georg wollte seine Mutter nicht warten lassen.
    Meine Mutter behandelte mich fast so unterwürfig wie den Vater, beflissen, es mir recht zu machen. Dat dolle Döppe war zu gebrauchen, brachte Geld ins Haus, ging op de Fabrik wie ein Mann. Sie rieb mir die Schultern mit Franzbranntwein ein und fragte, was ich morgen Abend essen wolle. Ich bestellte mir saure Nierchen und gesellte mich hinterm Hühnerstall zu den Leuten von Seldwyla.
    Der Vater und ich schlichen umeinander wie zwei Boxer, diewissen, daß die Zeit für den entscheidenden Kampf noch nicht reif ist. Wir belauschten uns, tasteten einander nach den verletzbaren Stellen, den wunden Punkten ab. Der Großmutter widersprach ich, wo ich mich beim Vater nicht traute und es bei der Mutter nicht für wert hielt. Die alte Frau antwortete mit hilflosem Schimpfen und verteufelte mich in aller Höllen Namen. Die Drohung, nicht mehr für mich zu beten, schüchterte mich eine Zeitlang noch ein. Wer jeden Morgen um fünf in die Messe ging, hatte zum Allerhöchsten sicher den besseren Draht.
    Die meisten Frauen bei Maternus waren unverheiratet. Wie ein Gefängniswärter hielt jeder ledige Mann den Schlüssel zu ihrer Freiheit. Heirat als Gnadenakt. Ehe als Befreiung, auch wenn die Verheirateten säuerlich lächelten und sagten, Waat äff! Sie waren eben an den Falschen geraten. Eine verheiratete Frau, die arbeiten gehen mußte, zählte nur halb. Ihr Ansehen war geringer als das einer Nichtverheirateten. Einer Noch-Nichtverheirateten. Am Ende der Rangordnung stand, wer keinen mitgekriegt hatte. Mer sollten et besser mache wie dat Nitribit, endeten die Frauen häufig ihre Klagen und Beschwerden. Wat dat kann, künne mer och!
    Einen mitzukriegen, den man vorher rumkriegen mußte, ohne ihn ranzulassen, war das Ziel. Ob man zum Treffen mit Hüftgürtel gehen sollte oder ohne, einen Büstenhalter mit Schaumgummieinlage anziehen sollte oder Natur, ob man mehr aufs Aussehen oder aufs Anfassen achten solle, wurde hitzig diskutiert und je nach Stand der Dinge von Fall zu Fall entschieden. Ob enge Röcke oder weite, letztere mit Petticoat oder ohne, und wenn mit, dann auf keinen Fall zu steif gestärkt - do kann mer sesch jo dran opspieße, hät dä Kääl jesäät. Hosen kamen nicht in Frage. Auch in meinen Büchern ging es um Verführung und Betrug, Suchen und Finden, Trennung, Enttäuschung und Versöhnung. Um Laufmaschen, Hüftgürtel, Petticoats ging es nie. Bücherfrauen mußten nicht arbeiten gehen. Selbst Mannequins oder Ärztinnen, Krankenschwestern oder Chefsekretärinnen tauschten glückstrahlend ihren Beruf gegen einen Ehering. In älteren Büchern waren Frauen nichts als Frauen, waren Töchter oder Schwestern oder Mündel und ersehnten den Richtigen in Land-häusern, Villen und Sommerfrischen, auf Schaukelstühlen, Recamieren und Fauteuils, aber doch nicht auf einem Hocker am Fließband in der Fabrik. Für die Frauen hier war die Fabrik der Parkplatz zwischen Elternhaus und Ehe, den es so schnell wie möglich zu verlassen galt. Ledig sein hieß halb sein. Heirat machte das Fräulein zur Frau. Einen Mann ins Haus zu kriegen, dazu war jedes Mittel recht. Ob man es vorher zum Äußersten kommen lassen solle oder nicht, war die umstrittenste Frage. Es konnte enden wie bei Anja. Niemand hatte von ihrer Schwangerschaft gewußt. Sehr blaß, mit hektischen roten Flecken auf den Wangen und lila Schatten unter den Augen, war sie eines Morgens ans Band gewankt und hatte sich vorsichtig, minge Rögge, mein Rücken, stöhnend, auf ihren Stuhl gleiten lassen. Als sie von der Toilette nicht mehr zurückgekommen war, hatte Lore nach ihr geschaut und die Blutlache unter der Tür entdeckt.
    Anja saß bei den Fertigmachern am unteren Ende des Bandes. Tagelang forschte ich nach Spuren in ihrem Gesicht. Zwischen Tod und Leben, so die Frauen, habe sie wochenlang geschwebt. Doch das spitze Mausgesicht mit dem vorspringenden Oberkiefer, der beim Lachen das graue Zahnfleisch fingerbreit entblößte, ließ nichts von all den Schmerzen und Demütigungen erkennen, die ich ihm zuschrieb. Seit kurzem hatte Anja wieder einen an der Hand. Diesmal wollte sie es schlauer anstellen.
    Dunja hatte schon gekündigt, als ich anfing. Am Ende meiner ersten Arbeitswoche

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