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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Respekt. Mir war sie unheimlich, wenn sich ihre dünnen, gelben, zerstochenen Finger wie eine Krake auf meinen Kopf herabsenkten und durch meine Haare fuhren. Mitunter zog sie mich zu kleinen Aufgaben heran, worum mich die anderen Mädchen mit einer Mischung aus Furcht und Mißgunst beneideten.
    An diesem Tag half ich ihr, Zierdeckchen von Tischen, Kommoden und Kissen gegen frisch gewaschene und gestärkte auszutauschen. Ich liebte den Geruch der Räume im ersten Stock, den Geruch gebügelter Wäsche mit ihrem Hauch Lavendel und Kölnisch Wasser, liebte den Blick in die hohen weißen Schränke auf die kantenscharf gestapelten Handtücher, Bettücher, Tisch- und Taschentücher, Bett- und Kissenbezüge, weiß und glatt und in endloser Fülle. Zu Hause waren die Handtücher blaugrau ka-riert und hart, das Bettzeug aus buntem Biber im Winter und im Sommer aus rot- oder blau-weiß gewürfelter Baumwolle.
    In einem kleineren Schrank wurden die Altardecken für das Kapellchen aufbewahrt und die Leichenhemden der Schwestern. Das ihre holte Schwester Bertholdis einmal heraus, faltete es langsam auseinander und hielt es sich vor den langen Körper. So sehe ich im Himmel aus, liebe Hildegard, sagte sie und flatterte mit den Ärmeln. Ich lachte laut heraus, und sie rollte das Hemd mißbilligend wieder zusammen.
    Zierdeckchen mußten auch im guten Zimmer des Kindergartens ausgelegt werden. Jedesmal, wenn ich eines unter die grüne Vase schob, genoß ich unsere Berührung stärker, spürte ihr Glas glatter und kühler als zuvor, fuhr mit dem Finger die Kurve des Ovals, die Steigung der Röhre lustvoll nach, fühlte die goldenen Bläschen unter der Fingerkuppe prickeln. Schwester Bertholdis ließ mich gewähren. Alle anderen Deckchen verteilte ich, fast ohne hinzusehen. Zur Belohnung durfte ich ein Plätzchen aus der Blechbüchse greifen.
    Diesmal hatte Bertholdis vergessen, das gute Zimmer abzuschließen. Ich hatte es gesehen und geschwiegen. Daß ich mich, kurz vorm Nachhauseweg, noch einmal zum >Austreten<, so sollten wir sagen, meldete, war nichts Besonderes: Benutzte ich eines der kleinen Porzellanklos, auf denen ich sitzen konnte, ohne mit den Füßen im Leeren zu baumeln, mußte ich einmal weniger auf das Plumpsklo daheim, ein fensterloses, etwa eineinhalb Quadratmeter großes Gelaß neben dem Haus, durch das Dreieck in der Holztür nur spärlich erleuchtet. Der etwa kniehohe Bretterkasten reichte von einer Seite zur anderen, hatte ein kreisrundes Loch, groß genug für einen erwachsenen Hintern, und war mit einem Deckel zu schließen wie ein Topf. Rechts stand der gleiche für uns Kinder, so niedrig, daß ich dort nur mit hoch angezogenen Knien hocken konnte, den Hintern tief in das Loch geprägt und zugleich bemüht, Berührungen mit Spuren der Vorgänger zu vermeiden. Ich zog es daher vor, über dem Erwachsenenklo zu balancieren, die Füße in der Luft, die Arme Halt suchend nach links und rechts gestemmt, den Atem anhaltend, bis ich endlich soweit war, um nach dem akkurat geschnittenen Zeitungsstück zu greifen. Im Sommer war der Gestank satt und fau-lig, im Winter blies der Wind den Schnee bis vor die Tür, und der Deckel war oft angefroren. Mit einem großen Schraubenzieher, der griffbereit auf dem Boden lag, mußte er von dem Sitzloch hochgehebelt werden. Dann sah ich abends durch das Dreieck bisweilen einen einzelnen Stern und fühlte mich seltsam getröstet.
    Doch lieber verschwand ich im Kindergarten hinter der halbhohen Tür und wusch mir nachher an einem der kleinen Becken ausgiebig die Hände, wie es sich gehörte. Zu Hause gab es nur einen Wasserhahn, den am Spülstein. Mehr als einmal Hände waschen täglich war Verschwendung und nur in Notfällen erlaubt. Ohnehin konnte ich an den Kran nicht heranreichen.
    Diesmal hielt ich mich nicht mit Händewaschen auf. Ich legte die Hand auf die Klinke der Tür zum guten Zimmer, drückte sie vorsichtig nach unten, die Tür gab nach. Die Sonne schien durch die beiden kleinen Fenster mit den dünnen weißen Gardinen und schnitt das Zimmer in vier Teile, zwei Viertel Licht, zwei Viertel Schatten, und alle vom Licht berührten Gegenstände schienen darin zu schwimmen und schillerten, als gehörten sie ins Wasser zu Nixen und Meerjungfrauen. Die grüne Vase atmete.
    Ich zog das Deckchen mit der Vase bis an den Rand der Kommode. Das alte Holz knarrte. Ich nahm die Vase in die Hand, in beide Hände. Rollte ihre bauchige Wölbung abwechselnd über meine Wangen. Gewitter lagen in

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