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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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an. Ich hatte gerade im Kindergarten gelernt, wie man sich die Nase putzt, daß man sie nicht hochzieht oder am Ärmel abwischt oder in den Rocksaum schnäuzt.
    Bertram sah mich an, als hätte ich Hottentott gesprochen, rieb sich den Rotz auf den nackten Arm, daß es dort glänzte wie von Schneckenspuren, und schluchzte nur noch lauter: Dat Hänsjen, dat Hänsjen.
    Ja, wat is denn mit dem Hänsjen? Ich hatte Hunger, wollte nach Hause, essen.
    Et is fott. Weg. Stille. Schluchzen.
    Fott? Ja, dann müsse mer et sööke [10] , sagte ich, spürte, wie mein Herz anschwoll, als wollte es durch Knochen und Haut aus mir herausfahren. Ich nahm Bertrams Hand. Alles war still. Niemand, der zwischen den Rosen im Vorgarten, den Johannis- und Stachelbeeren, den Bohnenstangen und Kartoffelreihen auf der Suche nach Hänsjen war. Kein Kind auf der Straße. Verlassen die Beete der Gärtnerei. Nun hielt ich es auch nicht mehr aus.
    Dat Hänsjen, dat Hänsjen, wo is dat Hänsjen? stürzten wir schreiend ins Haus.
    Die Großmutter saß auf der Hintertreppe und entkernte Sauerkirschen. Ihre Hände waren rot, und der rote Saft tropfte ihr von den Fingern.
    Wo is dat Hänsjen?
    Wir starrten die Alte an, die kaum von ihrer Schüssel aufsah.
    Dat wees esch doch nit. Fott.
    Die Großmutter zog ihre Haarnadel aus dem Korken, blutrot vom Kirschsaft, und steckte sie wieder in den Dutt. Fierovend. Feierabend.
    Das Ställchen war leer. Maschendraht und Riegel unversehrt. Ein Häufchen schwarzbrauner Köddel lag auf dem sauberen Stroh und die Möhre, mit der ich mich am Morgen von ihm ver-abschiedet hatte. Der Bruder heulte auf, und ich glaubte, an meinem Herzen zu ersticken.
    Wat sacht denn die Mama? fragte ich Bertram und zog ihn aus dem Schuppen.
    Nix. Sie sacht, dat Hänsje is fott.
    Die Mutter machte sich am Spülstein zu schaffen, wusch Gläser für die Sauerkirschen.
    Jo, jo, jo, et is fott, schnauzte sie, noch bevor wir etwas sagen konnten. Et is fott. Wat kann esch dann doför. Die Mutter bückte sich noch tiefer über die Gläser.
    Un jitz joht spille. Geht spielen. Jliesch kütt der Opa heem, dann jüt et Esse.
    Der Großvater war von Hänschens Verschwinden nicht minder überrascht als Bertram und ich. Er nahm die Großmutter beiseite, dann strich er uns über die Köpfe und versprach uns einen Gang an den Rhein.
    Abends gingen wir noch einmal zu Hänschens Kasten. Legten frischen Löwenzahn und Sauerampfer hinein. Sperrten die Maschendrahthälften weit auf.
    Lange konnten wir nicht einschlafen. Ich holte einen Buchstein aus der Schachtel im Nachttisch und las dem Bruder vor, was Hänschen am heutigen Tage erlebt hatte, wie er in den Feldern und Wiesen hinter dem Kirchhof, den zu erreichen ihm ein leichtes gewesen, auf Kameraden gestoßen sei, hübsche Kaninchen, Jungen und Mädchen, mit denen er Fangen und Verstecken gespielt und wunderbar leckeren Klee gefressen habe, bis mein Herz Satz für Satz wieder auf seine natürliche Größe zusammenschrumpfte.
    Am nächsten Morgen war auch Hänschens Kasten fort. Die Erwachsenen taten, als wäre nichts geschehen.
    Im Kindergarten warf ich mich in Anianas Arme, und als die Kinder einen neugierigen Kreis um uns bildeten, nahm sie mich beiseite und tröstete mich, so gut sie es vermochte. Ihre Handflächen waren seidig, weich und warm wie Hänschens Fell.
    Wir wollen für Hänsjen beten, sagte sie. Damit es ihm gut gehe, wohin ihn der liebe Gott auch immer geschickt hat. Amen. Wer weiß, ob er nicht schon bald wieder bei dir ist.
    Ich betete für Hänschen mit Aniana und abends noch einmalmit dem Bruder. Heimlich. Für ein Tier zu beten, hätte die Großmutter nie erlaubt.
    Wir beteten am Donnerstag, wir beteten am Freitag, am Samstag. Dann war Hänschen wieder da. Zumindest zur Hälfte. Nach der Rindfleischsuppe kam es auf den Tisch, kehrte uns den Rücken zu, lag da und duftete wie nie zuvor in seinem Leben.
    Hänsjen! schrie ich und wollte von der Holzbank springen, weg von diesem Tisch, diesem Geruch.
    Wo? schrie der Bruder, der glaubte, ich hätte es draußen gesehen. Hänsjen! schrie er und wollte ebenfalls weg.
    Wir kamen beide nicht weit. Mich drückte der Vater nieder, den Bruder zog die Großmutter frohlockend unterm Tisch hervor.
    Ihr bliet setze, herrschte der Vater uns an. Un jitz wird jejässe.
    Esch han kenne Honger, sagte ich. Dat is et Hänsjen. Und ihr hat dat die janze Zick jewoß.
    Die Hand des Vaters in meinem Nacken, das Messer der Großmutter im Fleisch auf dem Tisch, mein

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