Das verborgene Wort
der Luft. Kühl schmiegte sich das Glas an meine Haut. Ich streckte die Zunge heraus und leckte die Vase wie Eis, sie schmeckte metallisch. In der Ferne murmelte Donner. Ich stellte die Vase zurück. Mit ihrer größeren Fläche setzte ich sie auf dem Zierdeckchen ab, das brettsteif gestärkt über die Kante ragte. Die Vase kippte, fiel, zersplitterte. Es war sehr still, sehr hell, von weitem die Stimme des Lumpensammlers, Lump, Eis-, -pier! Ich hörte Aniana, die die Kinder aus dem Sandkasten zum Händewaschen rief und zum Beten.
Ja, Hildegard, sagte die Schwester und legte mir die Hand auf die Stirn. Ich hab dich schon vermißt. Wo hast du gesteckt?
Sie erwartete keine Antwort, zeigte zum Himmel.
Jetzt wird gebetet, und dann schnell nach Hause. Das gibt ein tüchtiges Gewitter, es steht schon über Mronz.
Gewitter kamen meist von Westen, über den Rhein, und blieben gern in unserer Gegend zwischen dem Wasser und den Anhöhen des Bergischen Landes hängen. Der Himmel war gelb, die Wolken graue Pilze mit scharfen, dunklen Rändern. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft roch schon versengt nach verbrannter Milch. Wir bekreuzigten uns, um die Schwester geschart, ein furchtsames Häufchen, beteten unterm tückisch anrollenden Donner eilig: >Mein Herz ist rein<. Ach, meins war es nicht.
Große runde Tropfen fielen, noch im Sonnenlicht, auf das heiße Wellblech des Wartehäuschens, fleckten den aufgeweichten Asphalt. In heller Aufregung rannten Schönenbachs Gänse mit ihren Jungen über die Straße in den Schutz der Bäume im Garten.
Die Großmutter hatte schon Türen und Fenster geschlossen, die Speisen weggeräumt. Bei Gewitter durfte nicht gegessen werden. Vater und Mutter, der Großvater und der Bruder saßen in der Küche um den Tisch, die Erwachsenen hielten die Rosenkränze in den Händen. Die Schutzkräuter lagen bereit. Jedes Jahr am ersten Sonntag nach Mariä Himmelfahrt gingen wir mit Sträußen von Rainfarn, Wermut, Schafgarbe, Goldrute und Johanniskraut ins Hochamt zur Weihe. Danach hingen die Bündel neben dem Tabak des Großvaters, neben Pfefferminze und Kamille unter dem Verandadach. Gewitterkräuter durften nicht ausgehen. Nach heißen Sommern war der Vorrat am Tag der neuen Weihe fast aufgezehrt.
Das Feuer im Herd, das sommers wie winters brannte, war angefacht, die Platte glühte. Unter dem Kreuz mit dem geweihten Buchsbaum flackerte der Docht im Öl durch das rotgefärbte Glas. Ich drückte mich neben den Bruder auf die Bank.
Dä, sagte die Großmutter und gab mir den Rosenkranz, den sie auf einer Wallfahrt nach Kevelaer gefunden hatte. Das Kreuz war verbogen, Jesus und die dritte Perle der ersten drei Vater unser< fehlten.
Blitzte es, begann die Großmutter laut zu zählen. Kam sie zwischen Blitz und Donner nur noch bis zehn, griff sie nach dem Rosenkranz und bekreuzigte sich. Wir bekreuzigten uns. >Der für uns ist gegeißelt worden<, sagte die Großmutter mit fester
Stimme. Bei Gewitter kam kein anderer als der schmerzensreiche Rosenkranz in Frage. >Der für uns ist gegeißelt worden<, sagten wir. Es blitzte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, unterbrach die Großmutter das Glaubensbekenntnis. Donner. Abgestiegen zu der Hölle<, leierten die Erwachsenen. Blitz. Eins, zwei, drei, vier, fünf, Donner. Die Großmutter stand auf. Bei fünf war das Gewitter über dem Rhein.
Dat kütt nit övver dat Berjische, sagte der Vater. Dat hänk jitz övver us, ergänzte die Mutter. Die Großmutter warf dem Vater einen vernichtenden Blick zu. Sprechen bei Gewitter war verboten. Nur Beten erlaubt.
Noch einmal fuhr die Großmutter mit dem Feuerhaken in die Glut. Dann zerrieb sie die geweihten Kräuter über der Herdplatte. Blitz. Wir beteten lauter. Donner. Rauch in dicken Schwaden stieg auf, würziger Duft biß in die Luft, biß in Luftröhre und Lunge. Es blitzte. Donnerte. Blitz und Donner lagen nun fast aufeinander. Das Haus erbebte, als würde an Piepers Eck eine riesige Trommel geschlagen. >Heilige Maria, Mutter Gottes<, husteten wir, Blitz, >der für uns<, Donner, »ist gegeißelt worden.« Zehnmal. Donner, >der für uns mit<, Blitz, >Dornen<, Donner, >gekrönt worden ist<. Zehnmal. Blitz, >der für uns das<, Donner, »schwere Kreuz getragen«, Blitz, >hat<, Donner. Zehnmal. >Der<, Blitz, >für<, Donner, >uns am<, Blitz, >Kreuz<, Donner, »gestorben ist<. Zehnmal. »Heilige Maria, Mutten, Blitz, >Gottes<, Donner, »bitte für uns Sünders Blitzdonner, Blitzblitzdonner,
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