Das verborgene Wort
schön zu sein, aber seine Winkel waren nach oben gebogen und wiesen so in Richtung des lieben Gottes, daß sie zu lächeln schien, auch wenn sie nachdenklich war, traurig oder ärgerlich. Und wenn sie durch den Garten lief und nach uns rief, Kinder, Kinder, kommt rein, Zeit zum Beten, Zeit zum Essen, entfaltete der Wind ein Lächeln noch in ihrem schweren schwarzen Schleier, der ihr bis in die Taille hing.
Aber wie brannten ihre Augen, wenn sie vom Teufel sprach. Teufelchen, nannte sie ihn, oder Bengelchen. Ernst nahm sie ihn schon, aber eher so wie einen kleinen, bösen Hund, dessen Gedeih und Verderb davon abhängt, ob wir ihn groß werden lassen oder nicht. Sie schaffte es, daß sich jeder von uns jederzeit tüchtig genug fühlte, es mit ihm aufzunehmen.
Vom lieben Gott erzählte Aniana auch, so, wie man von einem nahen Verwandten spricht, mit vertraulichem Respekt. Unser Gott zu Hause war der Gott der Strafe. Er sah ja auch aus wie der alte Brauereibesitzer, wohlbeleibt und gut gekämmt, mit weißem dichtem Haarkranz, weißem dichtem Bart unter blauen Augen. Spitze goldene Zacken wuchsen ihm aus dem Kopf. Umhüllt von blauen und gelben Stoffbahnen, umschwirrt von Engeln, die mit vollen Backen Blasinstrumente spielten, hing er überm Bett der Großeltern. Daß er nur einen einzigen Sohn hatte, wollte ich lange Zeit nicht glauben. Da war der Säuglings-Jesu, der jedes Jahr zu Weihnachten in der Krippe auftauchte. Dann der schöne junge Mann mit den vorquellenden braunen Augen, der das Bett der Eltern bewachte, ein gütiges Lächeln um den welligen Spitzbart. Seine linke Hand lag auf der rechten Brustseite, und links schlug ihm sein Herz. Purpur, in Gold gefaßt, durch das Tuch hindurch! Gott gab es also dreimal. Als Baby für die Kinder, als Sohn für die Eltern und als Vater für die Großeltern. Am liebsten war mir das Baby, kam es doch nie mit leeren Händen, um sich Weihnachten lieb Kind zu machen. Der Sohn schien mir zugänglicher als der Alte, der aber letztlich das Sagen hatte, so, wie in der Gärtnerei Schönenbach der Sohn nur dann den großen Mecki markierte, wenn der Alte verreist war.
Diesem Gott ging man am besten aus dem Weg. Machte sichunsichtbar wie vor dem Vater; der Altstraßen-Gott war ebenso unberechenbar, launisch, jähzornig, unzuverlässig.
Anianas Gott glich den guten Müttern im Märchen. Die weder Feuer noch Wasser scheuten, noch den Weg in das Totenreich, die sich den Dornbusch ins Fleisch drückten bis aufs Blut, um ihr Kind zu erlösen. Nie hatte ich von einem solchen Vater gehört. Väter verschacherten ihre Töchter an Könige, wo sie Stroh zu Gold spinnen mußten, lieferten sie bösen Stiefmüttern aus. Kein Vater in meinen Märchen erlöste je sein Kind. Und der liebe Gott von Schwester Aniana sollte anders sein?
Jeden Morgen vor dem Kindergarten lief ich zu Hänsjen und gab die immergleichen Ermahnungen der Mutter an ihn weiter. Als winziges Kaninchen hatte es die Tante vom Bauernhof in Rüpp- rich dem Bruder und mir geschenkt. Nun war Hänsjen ein stattliches Tier mit schwarzem Fell und grüngrauen Augen. Für Hänsjen war uns der zarteste Klee, der saftigste Löwenzahn, die süßeste Möhre, das Innere vom Kohl gerade fein genug, ja, wir knappsten uns sogar die Ohren vom Osterhasen für Hänsjens Mäulchen ab, das uns so zutraulich aus der Handfläche müm- melte. Keinen Abend gingen wir schlafen, ohne einen letzten Blick auf den Riegel zu werfen, der den geräumigen, vom Großvater gezimmerten Kasten versperrte.
Bis brav, Hänsjen, bis brav, dat mir keine Klagen kommen, verabschiedete ich mich auch an diesem Morgen von ihm. Hänsjen war brav. Niemals hatte es Anlaß zu Verdruß gegeben, nicht einmal der Mutter, die den Käfig sauberhielt, weil sie uns das nicht zutraute.
Schluchzend stand der Bruder an Piepers Eck, trat von einem Bein aufs andere und ruderte mit seinen dicken Ärmchen, daß ich, meine Brottasche vor den Bauch gepreßt, ihm, so schnell ich konnte, entgegenlief.
Piepers Lebensmittelladen war das äußerste Ende der Welt. Bis hierher durfte man sich ohne Erwachsene vorwagen; dahinter verschlang kindliche Vorwitznasen der Abgrund, die Hölle, der böse Wolf. Ausgenommen war der Weg in den Kindergarten, nur auf dem linken Trottoir; hin und zurück, ohne Stehenbleiben, ohne Umweg.
Dat Hänsjen, dat Hänsjen. Dicker, weißgelber Schnodder lief dem Bruder aus der Nase. Er mußte lecken, ehe er weiterreden konnte.
Häs de kein Täschedooch? herrschte ich ihn
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