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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Herz so weit, viel weiter als meine enge Brust, mein Herz so groß, mein Herz sich umstülpend, bis ich in meinem Herzen saß wie in einer Blase und alles um mich herum unscharf wurde. Der Braten, das Messer, der plärrende Bruder, die an ihren Fleischbrocken würgende Mutter verschwammen, dann spürte ich die Hand des Vaters nicht länger und glitt bewußtlos unter den Tisch.
    Gott hatte mein Gebet erhört. Ich hatte Hänschen wiedergesehen. Aber ich hatte nicht für einen Braten gebetet. Von nun an formulierte ich meine Gebete so genau wie möglich. Wenn man im Himmel etwas erreichen wollte, mußte man den lieben Gott festnageln, durfte ihm kein Schlupfloch lassen für irgendwelche Alleingänge. Zu der ohnmächtigen Wut über die Erwachsenen kam ein fast verächtlicher Zorn auf den lieben Gott. Er war ein Trickser.
    Ich bekam Hänschen am Sonntag abend wieder vorgesetzt, man tischte mir Hänschen beim Frühstück, Mittag-, Abendessen auf. Ich rührte Hänschen nicht an. Es gab Hänschen am Montag, am Dienstag. Vergeblich. Am Mittwoch gab es Prügel. Nachmittags fiel ich im Kindergarten um. Aniana brachte mich nach Hause. Abends gab es wieder normale Kost.
    Aniana war es auch, die Gottes Ansehen bei mir wiederherstellte. Notdürftig. Nicht ER, sondern der Onkel, Onkel Schäng, der auch unsere Hühner schlachtete, habe seine Hand im Spiel gehabt, und zwar mit einem Kantenschlag ins Genick.
    Dä Kning [11] hät nix jemerk, bestätigte die Mutter und bleckte die Zähne, als lächelte sie.
    Gott blieb gut. Böse war der Mensch. Aber wenn Gott allmächtig war, warum ließ er dann den Onkel am Leben? Und Hänschen nicht?
    Am nächsten Morgen lief ich auf dem rechten Trottoir zum Kindergarten. Hüpfte zickzack über die Straße. Machte sogar einen Umweg am Kirchhof vorbei. Als ich nach Hause kam, wußte die Mutter Bescheid, schimpfte. Die Tante auf ihrem Fahrrad hatte mich gesehen. Sonst geschah nichts.
    Mit weit in den Nacken gelegtem Kopf streckte ich die Zunge heraus. Im Lindenbaum vor Piepers Laden keckerte eine Elster. Ich machte die Zunge so lang und spitz wie möglich.
    Dem lieben Gott war es offensichtlich egal, ob ich den Bürgersteig rechts oder links benutzte, sogar daß ich ihm die Zunge rausstreckte, ließ ihn kalt. Oder hatte er wirklich, wie Aniana nicht müde wurde zu versichern, alle Kinder lieb? Auch die bösen. Die, die dem Düvel us dä Kiep jespronge waren.
    Am Samstag gingen wir mit dem Großvater an den Rhein. Lange hielt ich den häßlichsten Stein, einen grauschwarzen knubbeligen Buckel, in beiden Händen. Dem Gesicht des Onkels wuchs ein weißer Bart, aus seiner Halbglatze brachen goldene Strahlen. Ich streckte noch einmal die Zunge in den Himmel. Dann warf ich den Stein in den Rhein. Dicht neben meinem schlug der Stein des Großvaters ein.
    Es war die schönste Vase, die ich je gesehen hatte. Einem bauchigen Oval entstieg ein langer, schmaler Hals, der sich tulpenför- mig öffnete, grünes Glas mit goldenen Einsprengseln, Danziger Goldwasser, im Schütteln gefroren. Sie stand im Zimmer, das nurbei besonderen Gelegenheiten benutzt wurde, wenn das Kasperle kam oder der Nikolaus. Wir hatten auch zu Hause Vasen, zwei Stück, aus Beständen des Bürgermeisterhaushalts. Sie lagerten wohlverpackt auf dem Speicher und wurden nur für die Altäre der drei Prozessionen heruntergeholt. Dort konnte ich sie im Vorübergehen erspähen, mit den schönsten Blumen aus dem Garten.
    Sobald ich im Kindergarten das gute Zimmer, wie es genannt wurde, betrat, hatte ich nur Augen für die grüne Vase. Sie stand auf einer Kommode, kaum höher als ich, zwischen Tannenzapfenmännchen und einer gipsernen Mutter Gottes, einem drei- armigen Kerzenleuchter und anderen größeren und kleineren Vasen aus Glas und Ton. Wer hat aus meiner Vase getrunken? hatte ich gefragt, als ich einmal beim Märchenerzählen den dritten Zwerg in Schneewittchen sprechen durfte.
    Im ersten Stockwerk residierte Schwester Bertholdis. Sie hielt mit zwei Mädchen aus dem Dorf die Wäsche der Schwestern und des Krankenhauses in Schuß. Sie war groß und hatte ein scharf geschnittenes, herrisches Gesicht. Von allen Nonnen ragte einzig ihre Nase aus Schleier und steifer Haube heraus. Sie machte lange, unwürdige Schritte, und ihre laute, dunkle Stimme schallte weithin. Bertholdis kommandierte in reinem Hochdeutsch, und ihre klaren blauen Augen kommandierten mit. Sie sei ein Findelkind, munkelte man, womöglich von höherer Geburt. Vor ihr hatten alle

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