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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Füllfeder steckte in goldverzierter Kappe schräg auf einem grauschwarz gemaserten Steinsockel, einige Zeichengeräte, ein offenes Buch. Und ein Strickzeug! An einer langen, geschmeidigen Rundnadel hing ge- nopptes Gewirk aus hellblauer Wolle, Vorder- oder Rückenteil eines Pullovers, wie ihn Georg auch in der Fabrik trug.
    Deins? stieß ich hervor. Kannst du stricken?
    Georg nahm das Zeug vom Tisch und lächelte. Natürlich kann ich stricken, sagte er. Das hat mir meine Mutter schon bei-gebracht, als ich noch ganz klein war. Georg legte das Strickzeug in seinen Händen zurecht, Nägel mit Halbmonden und völlig frei von weißen Flecken, schob den Faden über den linken Zeigefinger und wirbelte die Nadeln umeinander, wie es die Cousinen nicht besser konnten. Seine Wangen röteten sich, er schob die Manschetten mit den goldenen Krokodilsköpfen über die Handgelenke, hielt die Nadeln vor die Seidenkrawatte, das fertige Gestrick lag auf seinen Oberschenkeln. Wenn du willst, strick ich dir auch einen, sagte Georg. Willst du? Hellblau ist auch eine gute Farbe für dich. Ich stricke nur hellblau. Himmelslicht. Siehst du. Ohne das Strickzeug aus der Hand zu legen, öffnete Georg eine schwarze eisenbeschlagene Truhe: hellblaue Wolle, randvoll.
    Ja, sagte ich matt, danke. Hellblau steht mir sicher gut. Ich kratzte mir verstohlen den Rücken, es juckte jetzt schon. Ein Pullover, gestrickt von einem Mann! Niemals würde ich ihn anziehen. Ins Feuer würde ich ihn werfen, wie den Pullover von der Cousine mit der halben Brust. Als wir das Haus verließen, klang uns im Flur Musik entgegen. Mahler, wisperte Georg, das ist Herr Knuts, der Untermieter, von der Oper, er hört das zusammen mit meiner Mutter. Wir schlichen auf Zehenspitzen hinaus.
    Mit jedem Schritt weg von diesem Hause wurde Georg wieder zu einem Mann, mit dem man sich gern sehen ließ. Schlank und aufrecht ging er neben mir durch den Park dem Schloß entgegen. Hatten diese Hände, die jetzt auf diesen Giebel, diese Säule, diesen Zierat an den Gesimsen wiesen, wirklich gerade noch Stricknadeln gehalten? Hatte diese Stimme, die mir jetzt so ruhig die Geschichte des Bauwerks erzählte, eben noch ängstlich geflüstert?
    Je näher wir dem Schloß kamen, je mehr Menschen auf dem Platz zusammentrafen, desto lebhafter wurde Georg, nahm sogar meine Hand. In meinen Büchern war das immer umgekehrt, dort ergriffen die Männer die Hand der Frau, wenn niemand mehr in Sicht war. Er aber hielt meine Hand auch noch, als wir im Cafe auf geschwungenen, weißlackierten Stahlstühlchen saßen, hielt sie mitten auf dem Tisch neben Aschenbecher und Fruchtbechern, in denen wir einhändig ungeschickt herumfischten. Ich genoß die Blicke der Menschen, die zu uns herübersahen, zu die-sem schönen, feinangezogenen Mann, diesem schönen, feinangezogenen Fräulein, diesem schönen feinangezogenen Paar. Paar sein war Erwachsensein. Frei.
    Werner Heisenberg, sagte Georg, heiße der Mann, der vor wenigen Jahren eine Formel entwickelt habe, alles lasse sich damit beschreiben, die ganze Welt, alle Zustände und Eigenschaften auch des kleinsten Teilchens. Na klar, sagte ich. Das kenn ich. Georg schaute ungläubig. Hör zu, sagte ich: »Schläft ein Lied in allen Dingen, / die da träumen fort und fort, / und die Welt fängt an zu singen / triffst du nur das Zauberwort.< Fast hätte Georg seine Hand zurückgezogen. Ich hielt sie fest. Das Zauberwort, sagte ich, begreifst du nicht, das Zauberwort von dem Eichendorff - das ist der Mann, der dieses Gedicht geschrieben hat, so wie dein Heisenberg seine Weltformel -, dieses Zauberwort ist die Weltformel. Sag sie mir, deine Weltformel, und wir wollen sehen, ob die Welt zu singen beginnt.
    Hilla, es kommt doch nicht darauf an, ob etwas singt, sondern ob es stimmt. Heisenberg will die Welt erklären, nicht besingen. Nur Zahlen lügen nicht.
    Aber Gedichte, beharrte ich, Gedichte lügen auch nicht. Heisenberg hat sicher recht. Aber Eichendorff hat auch recht.
    Im Strom der Spaziergänger gingen wir durch den Park an den Rhein. Georg nahm wieder meine Hand. Was war wichtiger für die Menschheit, die Mathematik oder die Dichtung? Wir redeten hitzig, Georg ohne Ahnung von Dichtung, ich ohne Ahnung von Mathematik. Jeder verteidigte seine Fluchtburg, seinen Ort, sicher vor den Nachstellungen der Wirklichkeit. Als wir das Ende der Rheinpromenade erreichten, da, wo der gepflasterte breite Weg in einen schmalen Lehmpfad überging, der sich durch Wiesen schlängelte

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