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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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und in den Weiden verlor, begannen Glocken zu läuten, von einer nah gelegenen Kirche zuerst, dann von einer zweiten, einer dritten. Wir blieben stehen, bis der letzte Ton verklungen war. Paare, umarmt oder Hand in Hand, gingen an uns vorüber, ich hätte nichts dagegen gehabt, ihnen zu folgen, aber Georg machte kehrt, und wir nahmen denselben Weg zurück. Wie gut du riechst, kleines Mädchen, sagte er beim Abschied und schnüffelte in meinem Nacken. Den Druck seiner Lippen auf meinem Halswirbel spürte ich noch in der Straßenbahn.
    Erzähl mal, stieß mich Lore Frings am nächsten Morgen vertraulich in die Seite. Alle Frauen wußten es. Jemand mußte uns gesehen haben. Der schöne Georg und das Schulmädchen Hand in Hand! Ob wir uns jeirrt han? spekulierten sie. Sie wollten alles wissen. Ich beschrieb das Haus und die Mutter, das Schloß und das Cafe, den Früchtebecher und die Rheinpromenade. Genoß es, jetzt eine von ihnen zu sein, auch etwas zum Erzählen zu haben. Sonnte mich in ihrer Neugier und begann zu begreifen, wieso sie keine Scham kannten, das Intimste von sich und ihren Männern preiszugeben. Wenn sie erzählten, waren sie wer. Du hörst mir zu, also bin ich. Solange du zuhörst, bin ich.
    Sonst nix? Sonst nix? drangen sie in mich. Ja, und weiter? Schon schlug Käti Kappes die >Bildzeitung< auf, schon begannen die Frauen Zweier- und Dreiergespräche. Da sagte ich: Er strickt. Ich wußte sofort: Das war Verrat. Meinem Drang dazuzugehören, ernst genommen zu werden, hatte ich Georg geopfert.
    Wat deit dä? Die >Bildzeitung< raschelte zusammen, alle wandten sich mir zu. Ich schlug die Hand vor den Mund, als könnte ich mir die paar Buchstaben in die Kehle zurückschlagen.
    Wie, fragte Lore. Hät he dir jet fürjestrick?
    Ich nickte. Hochrot. Mir war heiß, die Schulterblätter juckten.
    Die Frauen johlten. He hät däm Weet jet fürjestrick! Met de Stricknadel! Wat von Stärke hät he dann? Lang un dönn? Kooz un deck? Extra stark?
    Hellblau, rief ich dazwischen, verzweifelt, schrill, als könnte ich sie dadurch zum Schweigen bringen.
    Hellblau, wieherten sie, für Jungen! Nä, nä, dä Jearsch!
    Jetzt gehörte ich wirklich zu ihnen.
    Nach der Mittagspause brachte Georg leere Kartons. In dem Werkskittel, der den meisten Männern bis zur halben Wade, ihm nur bis ans Knie ging, sah er wirklich wie ein verkleideter Siegfried aus.
    Do kütt jo dä Stricker! Wo häs de dann ding Stricknol? Häs de överhaup en Stricknol? Zesch us ens, wie de stricke kanns! Stricks de nur met Woll? Nur von de Schoof? Käti Kappes, die anfangs mit Georg geliebäugelt hatte, schrie am lautesten. Hedi Stümbsch, die mit einem blauen Auge dasaß und gehänselt wurde, warum ihr Angetrauter ihr denn immer nur Veilchenaus der Wirtschaft mitbrächte, kreischte mit sich überschlagender Stimme. Gisela Stüssgen, deren Mann sonntags in rotem, schwarzsamten gesäumtem Talar dem Küster half, die Kollekte einzusammeln, lachte bei der Frage nach der Stricknadel wie eine Verrückte.
    Georg tat, als ginge ihn das Ganze nichts an. Lud wie immer die leeren Kartons am unteren Ende des Laufbands bei den Fertigmacherinnen ab und packte die vollen auf den Wagen.
    Halt die Schnüss un lost dä Jong in Rauh, rief Marlene, eine Fertigmacherin. Bei ihnen türmten sich die schlecht oder gar nicht verpackten Röhrchen. Für manch ene Kääl wör et besser, he dit stricke als sös jet, sonst was!
    Ich hob den Kopf nicht vom Band. Schielte, ob Georg zu mir schaute. Er tat es nicht.
    Plötzlich war die Flucht in den Kopf versperrt. Ich kam aus der Wirklichkeit nicht mehr heraus. Sah die Frauen, wie sie wirklich waren, ohne sie verwandelt in Geschichten schicken zu können, armselig und roh, in Stumpfheit verpuppt, und ich war eine von ihnen. Zeit, wenn nur Hunderte Pillenröhrchen in Hunderte Schachteln geschoben werden, die Hunderte Male zu verschließen sind, diese Zeit vergeht nicht. Sie ballt sich zusammen, ein riesiger Klumpen abgetöteter Zeit. Meine Zeit geriet erst wieder in Bewegung, als das Band um fünf Uhr stillstand.
    Ich wusch mir nicht die Hände, schaute nicht in den Spiegel, warf den Kittel ins Spind, hetzte aus der Fabrik. Georg war nicht am Tor. Eine Frau nach der anderen ging vorüber, manche schauten mich mitleidig oder spöttisch an, die meisten gleichgültig. Außerhalb der Fabrik gab es Wichtigeres als ein Schulmädchen und einen strickenden Werkstudenten, außerhalb der Fabrik war das wirkliche Leben, außerhalb der Fabrik war man

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