Das verborgene Wort
selbst wieder wirklich. Darum trugen die Frauen ihre Ehen, ihre Männer und Kinder in die Fabrik hinein: sie wollten fühlen, daß sie auch hier, in der Verödung des Körpers, des Kopfes und des Herzens, wirklich waren, wirklich lebten. Daher: je greller, desto besser. Aus ihren Geschichten sogen sie eine Dosis Leben, um gegen das Un-Leben des Fließbands anzukommen. Und wenn die eigenen Geschichten nicht ausreichten, gab es die >Bildzeitung< als Überlebenspille in hochdosierter Konzentration. Ich hatte meine
Leute von Seldwyla, sie ihre Königshäuser, Starletts und Skandale. Ein wirklicher Unterschied war das nicht.
Kurz vor der Straßenbahnhaltestelle holte ich Georg ein. Er trug seinen hellblauen Pullover wie immer über den Schultern, die Ärmel auf der Brust verschlungen, sein weißes Hemd locker über der Nietenhose. Er sah an mir vorbei. Ich vertrat ihm den Weg. Georg, ich zog ihn am Pullover, er glitt von seinen Schultern, in meine Hand. Da, sagte ich und hielt ihm den Pullover entgegen. Es tut mir so leid. Georg schaute auf mich herunter, aber er sah mich nicht an.
Kleines Mädchen, sagte er und berührte leicht meine Schulter, es ist ja schon gut. Seine Stimme klang alt, verzagt, brüchig, als hätte sie ihre tiefen Töne verloren.
Georg, begann ich wieder, ich wollte doch gar nicht, ich wußte doch nicht... Ich stockte.
Doch, Hilla, sagte Georg. Du wolltest. Und das war falsch. Und das weißt du auch. Und weil du das weißt, wollen wir es vergessen. Schau mal, was ich hier für dich habe. Georg öffnete seine Mappe. Seine Bewegungen, sein Blick, seine Stimme wieder wie gestern. Das ist für dich. Georg legte mir ein in purpurnes Leder gebundenes, mit Goldschnitt und Goldprägung versehenes Buch in die Hände: Eichendorff: >Sämmtliche Gedichtet
Georg, stammelte ich, überwältigt.
Wie war das noch? »Schläft ein Lied in allen Dingen ...<>... die da träumen fort und fort<, half ich mit erstickter Stimme weiter, >und die Welt fängt an zu singen, triffst du nur das<... »Zauberworte Das letzte Wort sprachen wir beide. Oder die Weltformel, sagte ich und drückte ihm die Hand.
Das Buch freute mich nicht. Georg hatte Schlechtes mit Gutem vergolten. Wie in der Bibel. So unverdient beschenkt zu sein ertrug ich schwer, so wie damals, als Frau Unkelbach mir den >Schott< gelassen hatte. Mit Liebe, Verständnis und Vergebung behandelt zu werden verwirrte und ängstigte mich. Es war nicht gerecht. Ich stellte das Buch in mein Regal im Holzschuppen, neben Schiller und Keller, eine rotlederne Mahnung.
Nach den Ferien verloren wir einander allmählich aus den Augen, ich holte ihn nur noch wenige Male bei Maternus ab, und Anfang Oktober war er nicht mehr da.
Lore Frings wußte noch nichts Neues von Dunja, als ich mich freitags zum letzten Mal ans Band setzte. Sie halte ihre, Lores, Wohnung tipptopp in Ordnung, stumm, knirsche nur mitunter etwas durch die Zähne, das klinge wie Paprikasalat. Daß Dunja sich in Lores Wohnung zu schaffen machte, beruhigte mich. Wer Frühstücksgeschirr spülte und einräumte, war im Gleichgewicht.
Keine der Frauen hatte Dunja wiedersehen wollen. Sie schienen ihr Unglück zu fürchten wie eine Seuche. Außerhalb der Fabrik war Dunja ohnehin nie eine von ihnen gewesen. Lore nickte erfreut, als ich ihr einen Besuch versprach.
Dunja sah aus, als sei sie jahrzehntelang durch die Wüste gezogen. Fahrig sprang sie aus Lores Polstergarnitur und preßte mich in ihre Arme. Ich hatte sie für schlank gehalten, sie war mager. Ihr Gesicht war mir rassig erschienen, jetzt sahen mich zwei glühendschwarze Augen aus einem mit gelbem Fleisch bespannten Schädel an. Ungewaschenes Haar hing ihr um den Kopf. Sie trug dasselbe Kleid, in dem sie sich von uns verabschiedet hatte, gelb mit roten Rosen. Sie hatte Kaffee gekocht. Lore aß noch ein Teilchen mit uns, ehe sie woanders Namenstag feiern ging.
Hilla, sprudelte Dunja, sobald Lore fort war, Hilla, du noch viel zu jung. Aber vielleicht doch schon wissen, was Liebe ist? Dunja krallte ihre Hand in die linke Brust und verzog das Gesicht wie im Schmerz.
Dunja, sagte ich... Aber sie erwartete keine Antwort. Sie wollte reden. Nun, auch wenn du noch nicht weißt, du sollst wissen. Du sollst zuhören. Die Geschichte von Branko und Dunja. Branko also hieß dä Jung, dä Kääl. Der Name ließ sich doch ganz leicht merken. Doch hätte dä Jung mit einem Namen für die Frauen wohl zuviel von seiner Märchenhaftigkeit verloren.
Dunja erzählte nicht,
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