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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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vollgestopft.
    Im Deutschunterricht nahmen wir das Thema »Erlebnisbericht wieder auf. Diskutierten die Art und Weise der Stoffsammlung, Gliederung, Herausarbeitung der Höhepunkte. Diemeisten glühten noch von der Sonne Italiens, Reit im Winkels, der Zugspitze, des Wörthersees oder doch wenigstens der Eifel. Bis zum Ende der Woche sollten wir einen Aufsatz schreiben: Meine Sommerferien in diesem Jahr.
    Ich fand die Straße und das Haus hinterm Bahnhof sofort. Es sah weit verkommener aus, als ich es mir nach Lores Bericht vorgestellt hatte. Die Grausamkeit der Geschichte schien sich in seinem bröckelnden Putz, den schmutzblinden Fenstern, dem Dreck und Abfall vor der Tür zu vervielfachen. Zwei dunkelhaarige, braunhäutige Männer bogen um die Ecke, kamen auf das Haus zu, machten, als sie mich auf der gegenüberliegenden Seite bemerkten, ein paar Fingerbewegungen, deren Bedeutung ich in diesem Sommer gelernt hatte, riefen dazu etwas in ihrer Sprache und nickten auffordernd in Richtung Tür. Dunja mußte blind gewesen sein.
    Die Mutter unterschrieb eine Entschuldigung, damit ich an Dunjas Beerdigung teilnehmen konnte. Wir gaben sie als Cousine aus. Trotz Widerspruchs im Kirchenvorstand und des Kaplans wurde Dunja auf dem katholischen Friedhof begraben, an der Hecke bei den Russengräbern, neben dem Kompost. In aller Stille. Außer mir standen Lore Frings und eine ältliche Jugoslawin am Grab. Das Grauen vor einer Selbstmörderin war stärker als die rheinische Neugier. Lore war von der Werksleitung geschickt worden. Beerdigung bei vollem Stundenlohn.
    Während der Kaplan unwillig ein Gebet über der Grube murmelte, hörte ich Dunjas Stimme an unserem letzten Nachmittag. Da hat sie, dachte ich, Abschied genommen. Hatte, was ihr widerfahren war, den Mann, ihr Glück, ihren Kummer, ihre Enttäuschung in eine Geschichte verwandelt. Vor allem den Mann. Aber auch sich. Seine Geschichte hatte die ihre verschlungen. Sie hatte sich zu einem Teil seiner Geschichte gemacht. Nicht ihn zu einem Teil der ihren. Nur in seiner Geschichte hatte sie noch existiert. Die Geschichte, die sie mir erzählt hatte, war von dem Mann geschrieben, von dem, was er getan und nicht getan hatte, von seiner An- oder Abwesenheit. Ihre eigene Geschichte hatte sie aufgegeben. Eine Fortsetzung ihrer Geschichte ohne die seine hatte Dunja sich nicht vorstellen können.
    Was wäre geschehen, hätte ich ihr an diesem Nachmittag nicht die Möglichkeit gegeben, ihr Leben in eine Geschichte umzuwandeln? Lebte sie noch? War ich schuldig, weil ich mit einer fremden Geschichte in die ihre hatte eindringen wollen? Nix! Nix! Nix! waren womöglich die letzten Worte gewesen, die Dunja an einen Menschen gerichtet hatte. Oder waren sie schon nicht mehr an mich gerichtet? Nur noch Protest gegen das Ende, das Ende der Geschichte?
    Was sie mit Dunjas Kleidern machen sollte, fragte Lore. Keine der Frauen wolle etwas haben. Dabei habe sich Dunja ganz neu eingekleidet vor ihrer Heimreise. Und ein dicker Packen weißer Seide liege auch noch zuunterst im Koffer.
    Mir hatte Lore ein Kopftuch mitgebracht, aus dem gleichen Stoff wie das Kleid, das Dunja zuletzt getragen hatte, gelbe Baumwolle mit roten Rosen. Das Tuch war mir unheimlich, als hinge Unglück im Gewebe.
    Beim Kaffee erzählten wir uns die Geschichte von Dunja noch einmal, ergänzten sie und schmückten sie aus. Wir waren erschüttert, aber auch erleichtert. Der Fall war abgeschlossen. Wie ein Roman. Dunjas Geschichte nun eine von denen, die den Frauen halfen, ihr eigenes, gleichförmiges Leben zu bestehen.
    Kaum hielt ich ihn in der Hand, las ich Brankos Fotogesicht aus dem Stein. Zusammen mit einer Rose aus dem Garten knotete ich ihn in Dunjas Tuch und schleuderte Stoff, Stein und Rose in den Rhein, dort, wo man Dunja gefunden hatte.
    Kurz nach Ostern war der neue Chefingenieur der Raffinerie in unsere Straße gezogen, in den Neubau des Holzhändlers Schneider. Nur vorübergehend, die Werkswohnung war noch nicht fertig. Er war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit müden Bewegungen, hängenden Mundwinkeln, viel Grau im dunklen Haar, das den schmalen Kopf mit der scharf vorspringenden Nase beinah lieblich umgab. Mit sich brachte er eine kleine, spitze Person, seine Frau. Spitz waren Nase und Kinn, spitz schloß sich ihr Mund überm spitzmausig vorgebogenen Kiefer, spitz züngelten ihre Augen unter spitzen Brauenbögen. Sogarihr schwarzes Haar, das sie kurzgeschnitten trug wie ein Junge, stand ihr in spitzen

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