Das verborgene Wort
Anwälte, die ihn zu verteidigen haben, zergliederten wir die Geschichte von allen Seiten. Wir verfolgten Kohlhaas, und er verfolgte uns. Nie zuvor, selbst nicht, als es um Schiller gegen Goethe ging, hatte ich ein Stück Literatur so sehr zu meiner eigenen Sache gemacht. Schiller, das war ich selbst: >Der Mensch ist frei und würd' er in Ketten geboren<, >Alle Menschen werden Brüder<, das war meine eigene Sehnsucht. Die Verachtung des Wirklichen, den Aufschwung in Ideen und Ideale, die Freiheit im Reich der Träume lebte ich, bevor ich Schiller las.
Kohlhaas aber war Kohlhaas. Er hatte mit mir nichts zu schaffen. Er war kein Teil von mir, nicht mein Sprachrohr. Er verkörperte nichts. Er existierte. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, den ich bis ins Innerste zu kennen glaubte.
Als hätte ich nie für Schiller gestritten, warf ich mich auf die Seite der Wirklichkeit. Kam Kohlhaas frei oder nicht?
Falsch gefragt, sagte Sigismund: Bekam er Gerechtigkeit oder nicht?
Was ist Gerechtigkeit? fragte ich. Was ist Recht? Ist Recht dasselbe wie Gerechtigkeit? Es ging doch nur um zwei Pferde. Vor allem aber: Was ist wichtiger? Gerechtigkeit oder das Leben? Wenn nicht das eigene, dann das von Frau und Kindern?
Kohlhaas war Unrecht geschehen, darin waren wir uns einig. Je weiter wir in die Geschichte eindrangen, desto hitziger wurden die Debatten, desto weiter entfernten sich unsere Standpunkte voneinander.
Sigismund pochte auf Recht und Gerechtigkeit. Was hätte er deiner Meinung nach denn machen sollen? Die Ohren des Freundes blühten aus dem Kopfkissen heraus wie zwei späte Rosen im Schnee. Diesem Kerl von der Tronkenburg die Rappen überlassen und Unrecht geschehen lassen? Klein beigeben? Nein, erwiderte ich. Aber Geduld hätte er haben müssen. Viel mehr Geduld. Er war im Recht. Aber nur für eine kurze Zeit.
Dann hat er sich selbst ins Unrecht gesetzt. Nicht erst, als er zum Mordbrenner wurde. Schon als er dem Amtmann sein Haus und Hof zum Kauf anbot, geriet er vom rechten Weg ab. Nicht umsonst schreibt Kleist - ich schlug das Heft auf und suchte die Stelle, die ich dick unterstrichen hatte -, nicht umsonst schreibt er >Lisbeth sein Weib, erblaßte bei diesen Worten .. .< hier: sie gab ihm >Blicke, in welche sich der Tod malte<. Und dabei war sie vorher noch ganz auf der Seite ihres Mannes. Da hat er das, was eigentlich sein Leben ausgemacht, schon aufgegeben für eine Idee.
Was heißt hier aufgegeben? Hatte er recht oder nicht? Zudem konnte er den Handel ja rückgängig machen.
Aber Lisbeth wäre ein Einlenken doch viel lieber gewesen!
Ja, aber das konnte er nicht. Er wäre nicht mehr Kohlhaas gewesen. Er mußte für seine Gerechtigkeit kämpfen.
Was glaubst du denn, was wichtiger ist: für seine Frau und seine Kinder dazusein oder für eine Idee? Für etwas Lebendiges oder etwas, das es gar nicht gibt? Etwas, das ihn zu einem Mörder macht, zu einem viel schlimmeren Menschen als den von der Tronkenburg.
Aber der von der Tronkenburg hat den Kohlhaas zum Mörder gemacht.
Was, schrie ich, wegen zweier schlecht ernährter Pferde soll man Menschen morden und Städte in Schutt und Asche legen dürfen?
Darum geht es doch gar nicht! Sigismund hatte sich nun steil aufgerichtet. Es geht um das Prinzip! Und da hat Kohlhaas recht!
Das Prinziiip! höhnte ich, ziemlich viel Tote wegen so eines Prinziiips. Meinst du nicht?
Ich glaubte zu wissen, warum es in der Geschichte so abscheulich zuging, warum Kohlhaas lieber mit Recht tot als mit Unrecht lebendig war: Der Geschichte fehlten die Frauen. Wo es keine Frauen gab, gab es auch keine Liebe. Wo es keine Liebe gab, herrschten Mord und Totschlag.
Meine Detektivgeschichten garantierten nach begangener Untat behagliche Spannung und ein gutes Ende. Im Kohlhaas hingegen war alles in schwankender Bewegung, nirgends ein Halt. Kaum glaubte man aufatmen zu dürfen, etwa nach dem Gespräch mit Luther oder der Begegnung mit dem Oberamtmann, schonzog eine ungünstige Wendung des Schicksals den Boden unter den Füßen wieder weg.
Doch kurz bevor man von dieser andauernden Schaukelbewegung des Schicksals zu ermüden droht, greift Kleist zu einem Trick, nicht anders als Hercule Poirot oder Sherlock Holmes. Die Zigeunerin mit der Kapsel taucht auf. Sie faszinierte mich vom ersten Satz an. Wie Lisbeth hatte sie noch einmal die Macht, Kohlhaas zum Innehalten, zur Umkehr zu bewegen.
Wegen des Zettels, den die Zigeunerin Kohlhaas zusteckt, hätte ich mich beinah zum ersten Mal mit
Weitere Kostenlose Bücher