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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Sigismund zerstritten.
    Zum Abschluß der Kohlhaas-Lektüre war Sigismund ein Aufsatzthema gestellt worden: >Die Bedeutung der Kapsel für Michael Kohlhaas<. Sigismund fand das Verschlingen des Zettels aus der Kapsel großartig. Ich hielt es für völlig unzureichend. Oft genug hatte ich mit dem Bruder auf der Küchenbank gehockt, wenn die Großmutter ein Huhn ausgenommen und zu unserem schaudernden Vergnügen dessen Magen aufgeschnitten hatte. Ich wußte, wie dauerhaft dort alle möglichen Dinge aufbewahrt sind, bevor die Magensäure ihr zersetzendes Werk beginnt. Hier habe man es mit Dichtung und nicht mit Hühnermägen zu tun, wurde mein Einwand zurückgewiesen. Und überhaupt, was ich mir dächte: ob der Kurfürst den Leichnam etwa hätte aufschlitzen lassen, dergestalt, daß man die Eingeweide des Verblichenen hätte durchwühlen sollen um eines schnöden Zettels willen?
    Schnöde, echote ich, ganz so schnöde sei der Zettel, wie uns Kleist hinlänglich zu verstehen gegeben habe, ja wohl nicht gewesen. Nichts leichter, als durch einen Leibschnitt an den Zettel des toten Mannes zu kommen, unter der einzigen, wenngleich notwendigen Voraussetzung, daß der Zettel unzerkaut geblieben sei. Dies aber sei ziemlich sicher. Es heiße: >und verschlang ihn<, von Kauen keine Rede. Zu deutlich standen mir die klaren Ordnungen eines Hühnerinneren vor Augen, die übersichtlichen, sinnfälligen Gliederungen von Leber, Galle, Lunge, Herz und Magen, dem faszinierenden Darmgeschlinge. Keine Sekunde hätte ich an des Kurfürsten Stelle gezögert, Kohlhaas in der Magengegend aufzuschneiden und, wenn nötig, auch in der Speiseröhre nachzusuchen. Ich jedenfalls - schloß ich meine Ausführungen - ich hätte das bestimmt getan!
    Das glaube ich, Hühnermagen! Sigismund schlug in Bauchhöhe ein paarmal mit dem Reclamheftchen auf die Bettdecke und verzog angeekelt sein Gesicht. Daß du auch nichts begreifst. Es geht auch hier um ein Prinzip. Um Rache. Aber mit dir ist ja nicht zu reden. Jetzt muß ich meinen Aufsatz schreiben. Bis heute abend.
    Gegen acht holte ich das Heft ab. Längere Texte schrieb ich ihm noch einmal neu; die Schrift mit der verletzten Hand war kaum lesbar. Sehr viel von Prinzip, von Recht, Gerechtigkeit, von Rache und Strafe stand da. Mein nachmittäglicher Zorn war noch nicht verraucht. Ich ließ ihm freien Lauf. Fügte der Abschrift meine Gedanken hinzu. Mit seinen Pferden, schrieb ich, habe Kohlhaas auch seinen Verstand verloren. Verantwortungslos habe er Frau und Kinder im Stich gelassen, um seinen Dickkopf durchzusetzen. Alles mit großen Worten verbrämt. Das aber komme davon, wenn nur Männer eine Rolle spielten und die Geschichte nicht von Liebe handle. Kleist habe dies ziemlich spät bemerkt und daher die Zigeunerin ins Spiel gebracht. Richtig hätte das Aufsatzthema lauten müssen: Die Bedeutung der Zigeunerin für Michael Kohlhaas. Ohne Hilfe dieser Zigeunerin, von der man kaum wisse, ob sie ein Geist sei, der der toten Lisbeth nämlich, oder ein wirklicher Mensch, wäre die Sache für Kohlhaas kläglich ausgegangen. Zwei lebendige Pferde für einen toten Mann. Kohlhaas, schloß ich schwungvoll, kannte keine Liebe. Nicht zu seiner Frau, nicht zu seinen Kindern, nicht zu sich. Er liebte das Leben nicht. Daher hatte er auch keine Angst vor dem Tod. Der Prinz von Homburg hatte Angst. Weil er das Leben liebte.
    An Sigismunds Teil hatte der Lehrer nichts auszusetzen. Hier und da hatte er sogar mit einem Ausrufungszeichen oder einem Sehr gut zugestimmt.
    In meinem Teil wimmelte es von Fragezeichen. Wie verwundete Ausrufungszeichen standen sie da, manchmal in Dreiergruppen, im Gleichschritt schmerzgekrümmt. Drei Fragezeichen hintereinander verlieren den Charakter des Zweifels, verlieren ihren Sinn zugunsten der Form. Ein Fragezeichen fragt. Viele Fragezeichen schmücken. Nach zwei Seiten hatte sich der Oberstudienrat seine Meinung gebildet. >Irrational<, >emotional< und,als das Vornehme nicht mehr ausreichte, >rührselig<, >Gefühlsduselei<. Und am Schluß: >Haben Sie noch Fieber?<
    Der Aufsatz war nicht benotet worden. Ich hatte Arger befürchtet, doch Sigismunds Miene heiterte sich zusehends auf, bis er strahlend nickte und protzte: Jawohl, Gefühlsduselei! Recht und Gesetz ist etwas für uns Männer!
    Ich war im ersten Stadium der Verliebtheit und bewunderte Sigismund für alles. Er lernte langsam und mühselig, ich nannte das gewissenhaft. Wenn ich seine Lateinvokabeln nach zwei-, dreimal Durchlesen

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