Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Büscheln um den Kopf. Ihr Sohn, ein Untersekundaner, ging wie mein Bruder auf das Möhlerather Gymnasium.
    Die Familie fiel in unserer Straße aus dem Rahmen. Nie sah man Frau Mix im Kittel, nie mit Lockenwicklern oder Haarnetz, nie fegte sie die Straße oder stellte Müll vor die Tür. Herr Mix, Herr Dr. Mix, trug auch bei dreißig Grad im Schatten Schlips und Kragen und einen zusammengerollten Regenschirm unter dem Arm. Der Sohn war ein Knabe. Oder schon ein Jüngling? Jedenfalls war er nie ein Junge gewesen und würde auch nie ein Halbstarker sein. Klein und mager, hatte Sigismund die schwarzen Haare seiner Mutter und die blasse Farbe des Vaters, die Ohren aber, die wie Katzenaugen am Fahrrad im Dunkeln leuchteten und in einem beinah stumpfen Winkel abstanden, diese Ohren waren die seinen. Sie hatten es mir angetan.
    Schon von weitem erkannte ich Sigismund auf seinem Fahrrad, grün, dünne Reifen, Fünfgangschaltung. Rannte ich schnell genug, würde ich an Piepers Laden mit ihm zusammentreffen. Zufällig. Ist Liebe auf den ersten Blick nicht beiderseitig, müssen Zufälle herbeigeführt werden, je mehr, desto besser, in jedem Zufall steckte eine Falle, die zufallen konnte. In meinen Büchern ließ man sich nach dem Kotillion ohnmächtig in die erwünschten Arme fallen oder hielt für alle Fälle zufällig ein Spitzentuch parat. Ich setzte auf meinen Hula-Hoop-Reifen! Hüftschwingend tänzelte ich Piepers Laden entgegen, schlüpfte aus dem Ring und trieb ihn mit der Hand vor mir her, und, o Gott, nun lief der Ring direkt in der Richtung von Sigismunds Fahrrad, so ein Zufall. Sigismund bremste, wich aus, traf den Bordstein, verlor die Balance, konnte sie halten. Doch wurde ihm die alte Linde vorm Laden, die ihre schwarzen, nur noch dünn belaubten Äste in den strahlenden Oktobertag hielt, zum Verhängnis. Ihre Blätter bildeten eine schmierige Schicht. Die Reifen rutschten, schlingerten. In einem eleganten Bogen, fast wie in Zeitlupe, kam Sigismund zu Fall. Mir zu Füßen, unter der Linde. Sigismund schrie auf. Ich auch. Er ächzte und versuchte aufzustehen, es ging nicht. Ich zog das Fahrrad von ihm weg und gab ihm meine Hand, er konnte nicht auftreten.
    Do muß dä Doktor kommen, sagte Frau Pieper resolut, die mit ihrer hochschwangeren Tochter Veronika aus dem Laden gelaufen war, ich telefonier däm ens. Piepers hatten seit kurzem ein Telefon, das erste in unserer Straße. Heldejaad, du sagst dä Mutter von däm Sijismund Bescheid.
    Betreten klaubte ich meinen Hula-Hoop-Reifen aus dem Graben an der Hecke von Schönenbachs Garten. Mit Sigismund hatte ich allein sein wollen, nicht mit seiner spitzen Mutter.
    Guten Tag, Frau Mix, sagte ich. Ich hatte mir das korrekte Grüßen mühsam antrainiert. Bei uns zu Hause gab es weder Guten Morgen noch Guten Abend, Guten Tag. Kein Bitte. Kein Danke. Das alles war fürnähme Krom, so der Vater. Nix för Pro- lete. Guten Tag, Frau Mix! sagte ich, und wenn gleich um die Ecke die Welt unterging, ich war doch nicht dat Kenk von nem Prolete. Sigismund liegt da unten an Piepers Eck. Ich glaube, er hat sich was gebrochen.
    Frau Mix band sich die Halbschürze ab und rannte mit mir aus dem Haus. Neben Frau Pieper und ihrer Tochter standen nun auch meine Mutter, die Großmutter, Julchen und Klärchen um Sigismund herum. Der saß im Rinnstein, schneeweiß um die Nase, und biß die Zähne aufeinander. Mein Bruder hatte das Fahrrad an Piepers Zaun gelehnt und mühte sich, Speichen geradezubiegen. Isch hab dem Doktor schon telefoniert, versuchte Frau Pieper Frau Mix zu beruhigen, die auf Sigismund herunterschalt. Alle machten Mickel ehrfürchtig Platz. Das linke Schienbein war gebrochen und die rechte Hand verstaucht.
    Doris sagte mir meinen Zustand auf den Kopf zu. So süß, so hilflos habe er ausgesehen, erzählte ich, wie er da im Rinnstein gelegen habe, die gelben Blätter unter sich, das grüne Fahrrad über sich, der bleiche Kopf, das schwarze Haar, blutrot am Haupt die Ohren.
    Doris war froh. Mit Sigismund Mix hatte ich endlich etwas Passendes vorzuweisen. Geh hin, befahl sie, als Sigismund wieder zu Hause war. Was sollte ich anziehen? Was mitbringen? Den Gänserock, entschieden wir, und den weißen Pullover. Er war am engsten. Aus der Schulbibliothek brachte ich ihm >Die Leute von Seldwyla< mit.
    Sigismund lag in seinem Zimmer, umgeben von allem, was erbrauchte, Essen, Trinken, ein Radio. Bücher in Fülle. Ich kam mir überflüssig vor. Sigismunds Mutter schien erfreuter, mich zu

Weitere Kostenlose Bücher