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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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sehen, als ihr Sohn. Froh, daß sich jemand um ihn kümmerte, verließ sie eilig das Haus. Wir waren allein. Helle Vorhänge mit blauen Segelschiffen und roten Sonnenschirmen bauschten sich am Fenster, Bilder hingen an der Wand, Drucke nenne man das, erklärte mir Sigismund, Picasso und Chagall. Ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank. Sigismund hatte einen ganzen Kleiderschrank für sich allein. Wie Doris, aber die war ein Mädchen. Ein runder Tisch und zwei Sessel auf einem abgetretenen Perserteppich. Stapel von Büchern, Obst in einem geflochtenen Körbchen, ein paar Hefte auf der schmalen Kommode an der Kopfseite. Sigismund steckte in einem Trainingsanzug und sah mir verwirrt entgegen. Ich fühlte mich sicher. Überlegen. Gesund eben.
    Guten Tag, Sigismund, sagte ich.
    Guten Tag, Hilla, sagte er. Setz dich doch.
    Ich setzte mich in einen der schalenförmigen Sessel, abgeschabt wie der Teppich, und legte mein Buch auf den Tisch. Aber du hast ja so viele Bücher.
    Laß sehen. Sigismund griff nach dem Buch, ich zog die Hand schnell zurück, das Buch fiel hin. Ich legte es ihm auf die Brust.
    Ah, >Die Leute von Seldwyla<. Kenn ich nicht. Du?
    Ich nickte heftig. Meine Sicherheit wuchs.
    Geschichten. Sigismund blätterte in dem Buch. Aus der Schulbibliothek. Hast du denn keine eigenen Bücher?
    Doch doch, stotterte ich, aber nur ein paar. Nicht einmal für ihn würde ich mich von einem meiner Bücher trennen.
    Welche Geschichte ist denn am besten? forschte Sigismund weiter. Kannst du mir eine vorlesen?
    Ich dachte an Doris und entschied mich für >Romeo und Julia auf dem Dorfe<. Das romantische, herzzerreißende Ende mußte wirken. Die Augen halb geschlossen, lag er da und hielt seine süßen Ohren meiner Stimme entgegen. >Er sah fortwährend das Lächeln des nahen, schönen Gesichts<, las ich in Sigismund träumerisch gelöste Züge, >und erwiderte dasselbe erst jetzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem er voll Liebe< - voll Liebe, wiederholte ich - >in Nacht und Wetter hinein das liebe Gesicht an-lachte, das ihm allerwegen aus dem Dunkel entgegentrat, so daß er glaubte, Vrenchen müsse auf seinen Wegen dies Lachen notwendig sehen und seiner innewerden.< Schritte im Flur, die Mutter stand im Zimmer. Sigismund fuhr auf, ich schrak zusammen, wie bei einer Missetat ertappt.
    Du bist ja immer noch hier, sagte sie, kniff die Augen zusammen und spitzte den Mund. So viel zu erzählen?
    Sigismund gähnte. Hilla hat mir vorgelesen, sagte er.
    Was denn, fragte die Mutter. Zeig mal her. Aha, >Die Leute von, von Seid.. .< - was? Ist ja auch egal. Ist es denn wenigstens lustig?
    Sigismund warf mir einen verzweifelten Blick zu. Mit Müttern dieser Art war nicht zu spaßen.
    Hilla kommt jetzt jeden Tag, sagte er, Triumph und Trotz in der Stimme. Wir machen zusammen Hausaufgaben. Ihr Bruder bringt sie aus der Schule mit.
    Das war nicht dumm. Ich schaute Sigismund bewundernd an.
    Aha, sagte die Mutter. Nun gut. Aber jetzt gehst du wohl besser nach Hause.
    Wie die Erwachsenen es verstanden, einen kleinzukriegen, einfach indem sie unsereins behandelten wie Kinder. Sigismund verzog das Gesicht und schwieg.
    Auf Wiedersehen, Frau Mix, sagte ich artig und fügte mit einem Hauch von Aufsässigkeit hinzu: bis morgen.
    Sigismunds Klasse las >Michael Kohlhaas<. Darum also hatte ihn der Anfang meiner Geschichte, der zähe Streit der beiden Bauern, der Rechtsfall, die gegenseitige Kränkung ihrer wunderlichen Ehre< so interessiert. Während Keller jedoch umgehend für klare Verhältnisse sorgte, die beiden Streithähne gleichermaßen ins Unrecht und alsdann ins Unheil stürzte, spannte Kleist den Leser auf die Folter. Ging mit ihm um wie mit Kohlhaas selbst, hielt ihn zwischen Hoffen und Verzweifeln, nahm ihn mit auf die Tronkenburg, wo Kohlhaas Unrecht erlitt und größeres verübte, nahm ihn mit auf die abschüssige Bahn, immer wieder Haltepunkte vorspiegelnd, Wendungen zum Guten, die alsbald zerrannen. Für Sigismund und mich gab es bald nur noch Michael Kohlhaas. Wir diskutierten seinen Fall, als trüge er sich vor unserer Haustür zu, kannten die Verwandten ersten undzweiten Grades, die dem sächsischen Kurfürsten anhingen, besser als unsere eigenen, kommentierten die Schritte politischer Amtsträger wie zwei ausgekochte Diplomaten, wußten anzugeben, wann Kohlhaas wo und wie lange sich aufgehalten, mit wem und zu welchem Behufe er dort verweilt habe. Wie zwei Kommissare, die einen Verbrecher zu überführen, dann wieder wie zwei

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