Das verborgene Wort
herunterbeten konnte, er aber am nächsten Tag noch immer nicht, hatte er eben anderes im Kopf. Wenn er ein Krokodil mit einem Leguan verwechselte, lag das an seiner Phantasie. Und wenn er im Englischen die Tempusfolge durcheinanderbrachte, war die Grammatik eben nicht für sein Gehirn gemacht.
Seinen Vater sah ich nur selten. Gelegentlich lehnte er in der Tür, angelockt von unseren aufgeregten Stimmen, und hörte uns ein paar Minuten zu. Sobald ich ihn bemerkte, fiel mir nichts mehr ein. Sigismund dozierte genüßlich, während der Vater mit liebevoll ironischem Lächeln auf uns hinabsah. Er zog sich dann wieder zurück, verharrte wohl auch noch einige Augenblicke im Flur, bis ich meine Stimme zurückgewonnen hatte. Wie beneidete ich Sigismund, wenn sein Vater dort stand, aufmerksam, freundlich, verständnisvoll, ein Vater, wie ich ihn nur aus Büchern kannte. Die Zunge wurde mir lahm vor Neid.
Am Tag nachdem ich Sigismund das Aufsatzheft zurückgebracht hatte, nahm mich der Vater beiseite. Hildegard, sagte er, ich habe gelesen, was du geschrieben hast. Laß dich nicht beirren. Es sind deine eigenen Gedanken. Das ist das Wichtigste. Sich immer eigene Gedanken machen. Egal, was die anderen dazu sagen. Ich bin froh, daß du mit Sigismund Freundschaft geschlossen hast.
Wie sehr wünschte ich mir, daß diese Nachmittagsstunden, diese verläßlichen Zeitspannen in einer anderen Wirklichkeit als der zu Hause, aber eben doch in einer Wirklichkeit und nicht in einem Buch, niemals enden würden. Da lag der Freund und wartete auf mich. Ich konnte kommen und gehen, in freudiger Sicherheit, sicherer Sehnsucht, lebte in einem Mantel aus bestän-diger Vorfreude, unterbrochen nur von den Stunden, die ich wirklich bei ihm war. Hätte ich wählen müssen zwischen unserem Zusammensein oder der Vorfreude, ich hätte mich ohne Zögern für die Vorfreude entschieden.
Streiften sich unsere Hände oder packte er mich im Eifer eines Gesprächs beim Arm, war mir das nicht unangenehm. Doch anders als in den Büchern sehnte ich es nicht herbei. Kein Schauer durchfuhr mich, kein Prickeln, keine Gänsehaut. Seine Nähe war mir genug.
Ende November humpelte Sigismund noch ein paar Tage in der Wohnung herum und fuhr dann wieder zur Schule.
Der gesunde Sigismund schüchterte mich ein. Seine körperliche Anwesenheit empfand ich als unheimlich und anziehend zugleich. So hatte ich als Kind Gespenstergeschichten gelesen, zähneklappernd, aber zu Ende doch. Schon der Händedruck des gesunden, stehenden Sigismund war kräftiger, herausfordernder als der des kranken, liegenden. War ein männlicher Händedruck, den ich noch lange spürte durch alle gelehrten Sätze hindurch. Sigismund war wieder, was er vor dem Unfall gewesen war, ein Junge zum Verlieben.
Sigismund? Der ist nicht da, beschied mich seine Mutter unfreundlich, als ich zur gewohnten Zeit klingelte. Und die Hausaufgaben mache er jetzt wieder selber. Ehe ich etwas sagen konnte, fiel die Tür ins Schloß.
Seit der Zeit bei Maternus hatte ich nichts mehr geschrieben. Jetzt kaufte ich mir wieder ein Rechenheft ohne Rand. Lieber Sigismund, schrieb ich. Im Kopf überstürzten sich die Wörter, doch den Weg durch den Arm in die Hand aufs Papier fanden sie nicht. Lieber Sigismund, schrieb ich mit einem riesigen Fragezeichen. Ich kniffte den Zettel, klebte ihn an allen vier Ecken mit Uhu zusammen und bat den Bruder, ihn Sigismund in der Schule zu geben.
Fünfzig, grinste der Bruder, hielt die Hand auf und schwenkte mit der anderen einen Zettel vor meiner Nase herum. Die Post ist teuer. - Zwanzig. - Na gut.
Liebe Hilla, las ich. Meine Mutter hat mir erzählt, daß Du da warst - Wenigstens das! - Hat sie Dir denn nicht gesagt, wo ich war? - Nein, hat sie nicht! - Ich mußte zum Doktor wegen mei-nem Bein. - Mei nes Bei nes! - Heute nachmittag wasche ich bei Maternus Auto! - Aha, bei Maternus. Die Familien verkehren also miteinander - So gegen vier Uhr. Kannst Du vorbeikommen?
Romantisch klang das nicht. Aber ich ging dennoch hin. Sigismund polierte beidhändig mit nahezu fachmännischen kreisenden Bewegungen den beigen Mercedes des Pillenfabrikanten, den Schwamm in der einen, den Lappen in der anderen Hand. Sah kaum auf, wandte nur, die Augen verdrehend, den Kopf in Richtung Haus. Hinter der Gardine stand Frau Maternus im violetten Mohairpullover, stemmte die Arme in die Hüften und ließ keinen Blick von Sigismund. Zerstreut nickte sie mir zu.
Tach, sagte ich. Du hast mir einen Zettel
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