Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
geschrieben.
    Du auch.
    Weißt du schon was von Mathe? Er hatte gerade eine Arbeit geschrieben. Die erste nach seinem Beinbruch. Seine Vier wackelte. Fünf, knurrte er, über den Eimer mit dampfender Lauge gebeugt. Fünf? entsetzte ich mich. Ich hatte noch nie eine Fünf geschrieben. Mangelhaft. Auch ich hielt die Zumutungen der Mathematik für schikanöse Phantasterei. Verstand nichts, hatte aber ein gutes Gedächtnis. Niemand konnte mir so ein aQuadrat + bQuadrat = cQuadrat erklären, geschweige denn zeigen. Genausogut, hatte ich Fräulein Feitzen entgegengehalten, könnte man sagen: Zwei Gabeln und zwei Löffel sind ein Besteck; eine Tasse und ein Teller ist ein Gedeck; ein Hund und eine Katze ist ein Schreck. Alles Erfindung. Sigismunds Fünf war keine. Sie war echt. Mangelhaft. Sigismund war ein Gezeichneter. Fast wie Maria mit ihrem Krebs.
    Siggi, sagte ich und berührte ihn am Ärmel seines olivgrünen Parkas. Die schwache Dezembersonne schien durch seine Ohren wie durch eine Martinslaterne. Sigismund sah kaum hoch, quetschte mit beiden Händen seinen Schwamm aus. Es platschte, ich sprang zurück. Die Frau hinter dem Fenster lachte.
    Schade, daß ich dir in Mathe nicht helfen kann, sagte ich, wie in Deutsch und Englisch und mit den Lateinvokabeln.
    Sigismund reckte sich: Ich muß das hier noch fertigkriegen, bevor es dunkel wird, sagte er.
    Wann sehen wir uns? fragte ich.
    Weiß nicht. Er kehrte mir den Rücken zu und fuhr verbissen fort, das Blech zu reiben. Das Fenster ging auf. Sigismund, rief Frau Maternus in dreigestuftem Wohllaut, Sigismund, Feierabend, jetzt gibt es einen Amerikaner!
    Ich ging. Grußlos. Das >Weiß nicht< sauste mir in den Ohren. Als ich mich umsah, war Sigismund schon im Haus des Pillenfabrikanten verschwunden.
    In den nächsten Tagen hörte ich nichts von ihm.
    Die Mix trecke weg, erzählte die Mutter. Noch vor Weihnachten zögen sie um, das Haus in der Werkssiedlung sei früher fertig geworden als die neue Fabrikhalle. Ich gab dem Bruder wieder einen Zettel mit. Diesmal mit zwei Fragezeichen.
    Marias Krebs hatte gestreut, sagten die Ärzte. Schemeterepie müsse sie haben, sagte die Tante. Ganz vorn zwischen die Zähne nahm sie das Wort, so, wie man etwas Schmutziges, Gefährliches mit spitzen Fingern anfaßt. Eine Wallfahrt müsse sie machen, hielt die Großmutter dagegen. Kevelaer, wohin sie zeitlebens gemeinsam mit dem Großvater gepilgert war, auch in der Nazizeit, wurde verworfen. Kevelaer half gegen Rheuma, Warzen, dicke Beine, vor allem aber gegen Kinderlosigkeit. Auf dem Hin- und Rückweg verbrachte man die Nacht in Scheunen. Gegen Krebs war Kevelaer zu schwach. Die Großmutter schrieb dem Ohm und bekam es schriftlich: Hier half nur noch Lurdäs. Hundert Jahre Wundertätigkeit, rund zwei Millionen Pilger jährlich, sechzig vom Papst anerkannte Heilungen, las die Großmutter andächtig vor.
    Maria wurde für die Fahrt als zu krank befunden. Die Tante fuhr. Acht Tage dauerte die Reise und kostete vierhundertzwanzig Mark. Mehr als ne Monatslohn, lamentierte die Mutter, wenn dat sesch blos rentiert. Hundert Mark hatte Hannis Mann dazugegeben, ohne Murren. Ein gutes Omen.
    Das ganze katholische Dondorf nahm teil am Unternehmen Lourdes. Lourdes-Andachten wurden eingerichtet, täglich um siebzehn Uhr, wo jeder seine Bitten und Fürbitten bereits im Vorfeld der Reise festlegen konnte. Die Tante wurde überhäuftmit versiegelten Zetteln und Briefen, die sie an der Muttergottesstatue niederlegen sollte. Für die Flaschen, in denen sie geweihtes Lourdes-Wasser mitbringen sollte, mußte sie einen Extrakoffer kaufen. Jede Flasche trug ein Etikett mit Namen wie für Eingemachtes, als traue man seiner mehr als der der anderen. Frau Pihl brachte ihren Madonnenflakon, den ich vor Jahren für den Großvater geleert hatte.
    Das Dorf fiel in einen Taumel wundergläubigen Betens. Jeden Tag berichtete die Mutter, die keine Lourdes-Andacht ausließ, von Personen, die sie schon jahrelang nicht mehr in der Kirche gesehen hatte. Jetzt beteten sie lauthals ihre Rosenkränze daher. Se sin immer do, wo et jet ömsös [56] jibt, knurrte die Großmutter.
    Der Sommer war ungewöhnlich heiß in diesem Jahr. Aus der Lüneburger Heide wurden Waldbrände gemeldet, im Norden Deutschlands verdorrte das Getreide auf den Halmen. Ich ging seit drei Wochen op de Fabrik, hatte Dunja und Georg im Kopf und verbrachte den Feierabend auf Schweizer Dörfern, in Londons Unterwelt oder bei Scotland Yard, in einem Lübecker

Weitere Kostenlose Bücher