Das verborgene Wort
Lieschen. Mit kurzen schnellen Schritten eilte sie zum Aufgang.
Sigismund hatte eine Rolle Drops gekauft. Sie klebten, und ich brauchte beide Hände, um eines abzulösen. Berührte er meine Linke mit Absicht? Zog er die Süßigkeit absichtlich ein wenig zurück, so, daß meine Hände seiner Hand folgen mußten? Das Licht erlosch. Das Gemurmel erstarb. Der Vorhang rauschte auseinander. Ich verschwand. Jemand rüttelte an meinem Ellenbogen. Ruhe, zischte man rings um mich her. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, hörte die Stimme der Mutter, ihren Leit- und Lebenssatz: Wat solle de Lück denke? Ich hatte die >Ringparabeh, zunächst nur die Lippen bewegend, mitgesprochen, dann aber, ohne es zu merken, war ich lauter und lauter geworden, bis ich die Verse von der Bühne unten mit erhobener Stimme begleitete. Sigismund tätschelte meinen Arm. Auf der Bühne ging die Rede von den drei Ringen weiter. Ich kannte jede Silbe. Aber es waren nicht mehr meine Wörter. Ich war eine Zuhörerin. Ich lebte nicht mehr mit. Warum fuchtelte der Schauspieler so wild herum, warum rannte er sinnlos, planlos auf und ab, wo es doch gar nichts zu laufen gab, nur zu sprechen, diese schönen Worte zu sprechen, warum tat er so wichtig, setzte sich derart in Szene, strich den Bart und rückte den Gürtel zurecht?
Ich schloß die Augen, wollte allein die schönen Wörter und Sätze, wollte meinen Nathan zurückhaben. Er kam nicht wieder.
Als die Schauspieler sich am Ende in ihren Kostümen verbeugten, fühlte ich mich beinah verhöhnt. Als marschierten am Ende eines Romans noch einmal alle Personen auf und versicherten dem Leser, Stunden und Tage mit Phantasiegespinsten vergeudet zu haben. Wie eitel diese kleine Frau, die vorgegeben hatte, Recha zu sein, ihre Wörter zu kennen, ihre Gefühle zu fühlen, ihre Schritte zu gehen, sich jetzt zum Vorhang wandte und zum Tempelherrn, der ihr, das war doch wohl der Gipfel, die Hand küßte! Einzig Nathan behielt seine Würde, wandelte gemessenen Schrittes hinter die Kulissen und wieder zurück, allein und mit den anderen. Seine Verbeugungen paßten. Auch im Stück hatte er vor dem Tempelherrn und vor Saladin immer wieder den Rücken krumm gemacht. Die ersten Zuschauer erhoben sich, schoben sich klatschend zum Ausgang.
Draußen bot mir Sigismund wieder eines seiner klebrigen Drops an. Kannst du wirklich so viel auswendig? fragte er. Ich nickte. Beschämt, als hätte er einen Mißwuchs an mir entdeckt.
Im Bus drängte ich mich an den Körpern vorbei in meine letzte Reihe und bückte mich zu meinen Schuhen, bis alle Platz gefunden hatten. Der Fahrer schloß die Türen, das Licht ging aus. Da ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich weinte um Ferdi, um Dunja, um Maria. Um den Großvater und alles, was ich mit ihm erlebt hatte. Es war vorbei, unwiederbringlich vorbei. Um das, was ich noch gar nicht hatte, weinte ich, es würde mir, wie alles Wirkliche, verlorengehen. Nur nichts besitzen, sagten die Tränen, nichts halten, nichts lieben; wer nichts besitzt, kann nichts verlieren, wer nichts hält, dem entfällt nichts, wer nicht liebt, wird nicht verlassen.
Sigismund hielt mir seine Drops hin und suchte nach meiner Hand. Ich entzog sie ihm. Diese Tränen waren meine Tränen. Ich wollte keinen Trost. Erst hinter Möhlerath putzte ich mir die Nase. Danke. Ich drückte Sigismunds Hand. Danke.
Lieschen Bormacher wartete vor dem Bus auf uns. Sie nahm meine Hand zwischen ihre Hände und sah mir forschend ins Gesicht.
War et so schön? fragte sie. War et so jut für disch? Ich nickte, glaubte in ihrem Blick etwas vom Schmerz allen Abschiednehmens zu lesen, den ich vorhin herauszuweinen begonnen hatte.
Schon von weitem riß die Mutter die Haustür auf. Sie trug ihr Sonntagskleid mit der geschliffenen Glasperlenkette und ihre Pomps. Mitten in der Nacht. Wo es denn dä Herr Jranderath? fragte sie aufgebracht, reckte sich auf die Zehenspitzen und blinzelte über meinen Kopf hinweg in die spärlich erleuchtete Straße. Der hat mich an Piepers Eck abgesetzt. Bis dahin war ich mit Sigismund gegangen. Hand in Hand. Die Mutter setzte sich an den Küchentisch, ließ die Schultern hängen, streifte die Pomps von den Füßen. 39,9, sagte ich. Wahrscheinlich Lungenentzündung. Ihre rauhen, roten Hände wischten unsichtbare Krumen auf dem Wachstuch. Und morgen ins Krankenhaus. Du leeve Jott! Die Miene der Mutter heiterte sich auf, und ich erzählte ihr noch ein Weilchen von Schweißausbrüchen, Brechreiz und
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