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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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zusammengeschnürt, und dann habe er mich genommen. Wie? rief Doris und zog ihre Hand aus der meinen. Ich hatte nur noch das dumpfe Verlangen, von ihm genommen zu werden, sagte ich. Doris starrte mich an. Jeder Nerv von ihm habe nach mir gehungert, habe Sigismund gesagt, und: Du bist meine Ewigkeit. Wir müssen an unsere Feste glauben, wenn wir sie feiern wollen, habe Sigismund gesagt, sagte ich, wie ich es abends zuvor gelesen hatte. Ich habe an seiner Schulter geweint, sagte ich. Rote Abendlichter hätten in den Zweigen gehangen, ich sei aufgefahren: Wir müssen heim, habe ich gesagt, und Sigismund darauf: Ja, die Eltern sind auch noch da, aber nur so ganz verschwommen. Wirklich sind eigentlich - nur du und ich.
    Doris seufzte zum dritten Mal. So schön sprach ihr Robert nicht. So süß duftete nirgends die Luft für sie, so schwer und golden schien ihnen niemals ein Abendlicht.
    Kunststück! Wo blühten Abendhimmel je so köstlich auf wie in meiner Sammlung schöner Wörter? Wo stieg je die Nacht so gelassen ans Land wie in meinen erlesenen Sätzen? Vom wirklichen Sigismund war mir die Berührung seiner Brust auf Schulterblatt und Oberarm schon zuviel, wenn er sich am Billardtisch über mich beugte, um die Lage des Stocks in meinen Händen zu verändern. Ich mußte an mich halten, um ihn nicht abzuschütteln, nicht auszuschlagen wie ein Pferd, das fürchtet, an die Kandare genommen zu werden. Nur wenn seine Hand die meine einmal unabsichtlich berührte, spürte ich einen Anflug, eine Ahnung jener Schauer, von denen ich so lebhaft faselte. Aber das hätte ich Doris niemals erzählt.
    In der letzten Klasse der Realschule schrieb man eine sogenannte >Jahresarbeit<, eine merkwürdige Mischung aus Zeitungsfotos, eigenen und fremden Texten zu einem frei gewählten Thema. Muster von älteren Jahrgängen wurden ausgelegt. Die Mädchen interessierten sich für Mode, Kochen und Tiere, die Jungen für Sport, Technik und Tiere.
    Fräulein Abendgold erwartete die Wahl eines Dichters von mir. Dichter interessierten mich nicht für eine Jahresarbeit. Nicht einmal Schiller. Mein Schiller ging keinen etwas an. Was kümmerte mich der 1759 in Marbach geborene Säugling, der Kadett der Militäranstalt, der Ehemann, der Vater, der Professor? Dieses Leben hatte mich nur interessiert, um mich bei Geffken hervorzutun. Ich liebte mein Bild von ihm. Las, was er schrieb, nicht um ihn zu verstehen, sondern mich. Meine Welt, nicht die der alten Dichter. Nichts für dritte.
    Sigismund riet mir zu Picasso oder Chagall. Ich machte mir nichts aus Malern. Nicht einmal ihm zuliebe.
    Alle sammelten und tauschten Fotos, klebten und zeichneten. Die Unruhe der Lehrerin steckte mich an. Da schenkte mir Hansjörg Schmidt seine Igelfotos. Müde der Hänseleien seiner Klassenkameraden, die ihn wegen seines Bürstenhaarschnitts nur noch >Igel< riefen, hatte er sich für Elefanten entschieden. Irgendwann würde ich etwas dazu schreiben. Hauptsache, ich hatte meine Ruhe.
    Was ich suchte, fand ich am Ende bei Maria. Sie war kurz vor Ostern entlassen worden. An einem der ersten strahlenden Frühlingstage ging ich zu ihr. Sie saß auf dem Sofa, als hätte sie sich von dort niemals weggerührt. Kräftige Nachmittagssonne umrandete ihren schwarzen Pagenkopf. Glänzend schmiegte sich das glatte Haar über ihre Ohren bis ans Kinn. Auch das kühn nach oben geschwungene Gestell ihrer Brille war schwarz.
    Dat is et Jüppsche, sagte sie statt einer Begrüßung. Ihr Platt, um Hochdeutsch bemüht, gab ihrem städtischen Aussehen etwas rührend Falsches. Kuck mal. Maria spitzte die Lippen, streckte ihren Hals einem goldenen Bauer entgegen und brachte einen zittrigen Ton hervor. Ein Kanarienvogel schreckte hoch, schwirrte gegen die Stäbe, ließ sich endlich auf einer runden Holzstangenieder und pickte nach Körnern und Wasser. Maria pfiff, bis der Vogel aus voller Kehle zu trällern begann.
    Siehst du, Hilla, dat is jetzt mein Jüppschen. Wenn du der Tante nix sachst, laß isch et jetzt mal raus. Versprochen? Ich nickte. Warum sollte ich das der Tante nicht sagen? Was war so großartig an einem im Wohnzimmer herumfliegenden Kanarienvogel? Maria schob das Türchen auf. Die wenigen Schritte, das kurze Stehen hatten sie angestrengt. Sie preßte ihre Hand auf die gerüschte Bluse und ließ sich aufs Sofa fallen. Unablässig strich sie mit der einen Hand über die andere, als seien die Hände einander dankbar für jede Berührung. Jüppschen rührte sich nicht. Saß auf seiner

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