Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
überwältigten ihn, sogen ihn auf und gaben ihn wieder heraus: Nathan. Mit weißen Locken und steifem Bart, das Käppchen auf dem Hinterkopf, in einem Gewand wie der Moses meiner Kinderbibel. >Ja, Daja, Gott sei Dank.<
    Ich war in jeder Bewegung, jeder Silbe, jedem Hauch einer jeden Person dort auf der Bühne. Ich war sie alle und alles von allen. In jedem Körper, jedem Laut, jeder Gebärde.
    >Wie seid Ihr es doch ganz und gar mein Vater / Ich glaubt' Ihr hättet Eure Stimme nur / Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? .. .<
    Sekundenlang tauchte der Vater im blauen Drillich auf, wie er an jenem Abend, als ich ihm die Verse entgegengerufen, sein Fahrrad durch das Tor geschoben hatte, >Was für Berge / Für Wüsten, was für Ströme trennen uns / Denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit ihr / Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen?«
    >Mein Kind! mein liebes Kinds sprach Nathan, sprach der Vater, sprach ich selbst. Ich in ihren Armen, die auch meine Arme waren. Ich floß durch sie hindurch, in mich zurück und wieder hin zu ihnen, wie Atemluft, die durch die Lungen kreist.
    Der Vorhang fiel. Man klatschte. Ich klatschte mit. Gehen wir etwas trinken? fragte Sigismund. Ich schüttelte den Kopf, wollte allein sein. Vor der Damentoilette stand eine lange Schlange. Hier hatte ich meine Ruhe. Glaubte ich. Eine Frau mit kupferro-tem Flitterschmuck im blondgesträhnten Haar redete unablässig über meinen Kopf hinweg mit der Frau hinter mir und kritisierte Stück und Schauspieler mit einem Hagel von Fragen, deren Beantwortung sie nicht im mindesten erwartete. Ihr mißfiel alles. Im breiten Singsang der Düsseldorfer tat sie ihren Abscheu vor den Kostümen, den Kulissen, den Schauspielern kund. Un dat Stück, sagte sie gedehnt - sie hatte gemerkt, daß man ihr zuhörte, und genoß es, während die Frau hinter mir mit eingezogenem Kopf zu Boden sah -, un dat Stück, nä, was soll denn unsereins in der modernen Welt mit so >nem alte Jüd un Tempelherrn, und dann auch noch mit nem Scheisch! Wat meinst du, Therese? Un wie die rumlaufen! Dä Schlabber! Könnt mer denen nit wenij- stens wat Anständijes anziehen? Dat is doch nit zeitjemäß. Oder? Therese, sag doch auch mal wat dazu? Und dann dat Mobiliar. Wo se dat nur herhan? Einfach schäbbisch! Dabei hat der doch Jeld, der Nathan, denk isch, Jüttsche han doch immer jet an de Föß, Pinkepinke, wat Theresjen? Nä, da fahr isch doch lieber nächstes Jahr wieder nach Bad Kissingen. Da jab et dieses Jahr die >Gräfin Marrizza<. Die Kostüme! Ein Jedischt! Un die Stimmen! >Jern hab ich die Fraun jeküßt<, wat, Therese? Am liebsten jing isch hier jetz nach Hause. Wie lange dauert et dann noch? Therese?! Meinst du, isch halt dat noch aus? Dat Abbo hier, dat wird jekündischt, dat kann meine Mann morjen seiner Sekretärin sagen. Wat, Therese?
    Ich floh. Draußen wartete Sigismund. Er hielt ein Glas Limonade für mich in der Hand. Neben ihm Lieschen Bormacher. Wie sie so dastanden, die beiden schwarzen, nicht sehr großen Gestalten, das zarte alte Fräulein, der junge Mann, beide befangen in der ungewohnten Umgebung, schienen sie mir sekundenlang zwei Buchstaben, Zeichen einer Sprache, die auf meine Entschlüsselung warteten, hofften, daß ich sie las und verstand.
    Juten Tach, Hildejard, sagte Lieschen. Isch hab disch vorhin schon im Bus jesehen, aber du hast misch wohl nit erkannt. Schön, dat wir uns hier treffen. Sie reichte mir ihre Hand, von der ich so oft die süßen Schrumpeläpfel gegriffen hatte. Berührt hatte ich sie noch nie. Ihre Hand war nicht größer als meine. Anders als andere Erwachsenenhände zwang sie sich meiner nicht auf, preßte, spreizte, vergewaltigte sie nicht. Legte sich einfach indie meine hinein wie ein Geschenk, ein warmes, trockenes, federleichtes Stück von ihr. Anianas Augen sahen mich an. Augen, in die man sich fallenlassen konnte, ohne Angst, immer tiefer, bis man sich selbst spürte, was so wohltat, daß man beinah weinen mußte.
    Erst als Sigismund mir die Limonade fast vor die Brust stieß, ließ ich Lieschens Hand los. Danke, Siggi, sagte ich. Danke. Wie leicht mir dieses >Danke< fiel. Jahrelang, nachdem ich das Alpenveilchen vor des Bürgermeisters Füße hatte fallen lassen, hatte ich das Wort nicht mehr herausbringen können. Danke, sagte ich und sah in Sigismunds Augen. Glatt und glänzend gaben sie mir mein Bild zurück, den hohen Spiegel und die vielen Lichter hinter mir.
    Es klingelte zum zweiten Mal. Isch muß noch eine Treppe höher, sagte

Weitere Kostenlose Bücher