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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Stange und pfiff. Pfeif du ihm mal, Hilla, bat Maria. Ich stieß drei Töne hervor. Jüppschen, wie von einer Märchenflöte gelockt, schoß aus dem Käfig und landete auf Marias Schulter. Maria strahlte und legte einen Finger auf den Mund. Ich rührte mich nicht. Ganz leise begann Maria zu sprechen. Töne, Laute, Silben, nicht für Menschen, sondern für dieses kleine, gelbe Ding, das zutraulich in ihrer Perücke pickte. Die Cousine mit Perücke und Brille diese sinnlosen, zärtlichen Silben murmeln zu hören, sie im Duett mit Jüppschen schnalzen, schnatzen, fiepsen, piepen, girren, zirpen, zwitschern zu hören entrückte sie von ihrem Sofa zwischen Zimmerlinde und Gummibaum in eine andere Welt.
    Ich war überflüssig. Vorsichtig schlich ich in die Ecke zum Radio und hockte mich neben einen Stapel alter Illustrierten. Behutsam nahm ich eine >Kristall< in die Hand.
    Das Foto, etwa so groß wie ein Schulheft, war schön. Über einem Stengel roter Lohe öffnete sich ein glühender Kelch, durch alle Farben des Goldes spielend, einer weit aufgeblühten Tulpe gleich, und verschwand an den unscharfen Rändern im schwarzen Hintergrund. Ich wußte, was es war: eine Atombombe. Diese Schönheit konnte mir nichts vormachen. Vor Jahren hatte ich in dieser Illustrierten ganz andre Fotos gefunden, das Heft mußte noch in meinem Schuhkarton liegen.
    Raschelnd blätterte ich um. Der Vogel flatterte auf. Hilla, sagte Maria wie von weit her, da bis de ja noch. Has de jesehen, wie jern misch dat Jüppschen hat? Ja, auf so ein Tierschen is Verlaß. Komm, Jüppschen komm, trällerte sie. Doch Jüppschen flog inden Käfig zurück und pickte Körner. Ja, Heldejaad, Hilla, Maria seufzte. So is dat. Mach dat Pöözje wieder zu. Da haben wir Jlück jehabt. Meist is dat Käälsche in dä Käfisch nit widder rein- zekrieje.
    So, Maria klopfte mit der Hand einladend neben sich, so, und nun erzähl mal.
    Was hätte ich Maria erzählen sollen, was sie nicht längst wußte? Daß Kackallers Katti schon wieder einen dicken Bauch hatte? Finkes Otto beim Säubern der Dachrinne von der Leiter gestürzt, wie durch ein Wunder aber unverletzt geblieben war? Schlinks Paulchen, der Friseur, Ditzmanns Minna ins Ohr geschnitten und diese daraufhin von dem erschrockenen Mann als Wiedergutmachung ein Jahr lang freie Dauerwelle erhalten hatte? Nein, das war Maria neu. Es befriedigte sie tief, als ich ihr in allen Einzelheiten erzählte, wie Schlinks Paulchen der Frau, kaum daß ihr Ohr ausgeheilt war, in seiner Aufregung, alles ganz besonders richtig zu machen, gleich bei der ersten Dauerwelle die Kopfhaut verbrannt habe. Maria gefiel die Geschichte so gut, daß ich mich bis zu Verbrennungen zweiten Grades steigerte. Geschult durch jahrelange Lektüre heiliger Märtyrertode, malte ich den Vorgang aufs genaueste aus. Ganze Büschel? fragte Maria mit glänzenden Augen. Ganze Büschel, nickte ich. Und es wächst nie wieder nach!
    Aber bei mir! Mit einem Griff hob Maria den schwarzen Bubikopf hoch, auf gestreckten Fingerspitzen schwebte er sekundenlang durch die Luft und lag dann vor uns wie ein fremdartiges, totes Tier.
    Fühl mal, sagte Maria, ergriff meine Hand und führte sie über ihren Schädel. Die Kopfhaut war feucht, der kaum tastbare Flaum zu feinen, kurzen, schwarzen Strichen schweißig zusammengeklebt. Hier, Maria zwang meine Hand in den Nacken, da fühlt es sich schon wieder ganz wie früher an. Ich zupfte vorsichtig, und Maria sagte stolz: Ja, Hilla, da kannst de sojar wieder dran ziehen! Die halten!
    Wir kicherten, ohne recht zu wissen, warum. Es tat gut, an Marias Haaren im Nacken zu zupfen und dabei zu kichern. Jüppschen piepste.
    Auf dem Nachhauseweg ließ ich mir Zeit. In den Vorgärtender Einfamilienhäuser, die meisten neu oder doch wenigstens frisch gestrichen, blühten Krokusse, Schneeglöckchen, Tulpen; unter Goldregen und Forsythien wachten Zwerge mit Laternen und Schubkarren, in denen Hyazinthen wuchsen. Durch diese Ordnung und Behaglichkeit schlug jene schreckliche Schönheit des Fotos, das ich mit mir nach Hause trug. Wie konnte Schönheit so schrecklich sein? Das Schreckliche so schön?
    Ich fand die alte >Kristall< in einem meiner Schuhkartons. Es war ein langer Bericht, viele Zahlen und japanische Namen, ein paar Fotos, schwarzweiß. Die schreckliche Schönheit der rot- weißgolden glühenden Tulpe schien damit nichts zu tun zu haben.
    In dieser Nacht lag ich lange wach. Wörter schwirrten mir durch den Kopf, suchten Gedanken zu

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