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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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werden, Sätze. Wörter und Bilder, Silben und Farben, die Bombe der Tod, die Schönheit der Schrecken. Die Häuser, die Bäume, Straßen, der Mensch. Alte und Junge, Frauen und Männer, Kranke, Gesunde, Kinder. Kinder, immer wieder Kinder. Wo waren sie, als die Atombombe kam? Was geschah ihnen, als die Atombombe kam? Als die Atombombe kam, als die Atombombe kam. Eine Flut von Bildern stürzte auf mich ein, Märtyrer aus dem Heiligenbuch, Blutstrahl aus Brüsten, Hautfetzen in langen Bahnen vom Rücken herab, klaffende Fleischwunden; Marias kahler Kopf, Marias halbe Brust. >Nacht und Nebel< war wieder da, Abel, der Junge mit der Schiebermütze, unter Gliederbergen begraben.
    Mit Sigismund traf ich mich fast regelmäßig zweimal in der Woche zum Tischtennis- und Billardspielen. Manchmal tranken wir noch ein Glas Saft in seinem Zimmer, wenn er mir eine neue Kunstpostkarte zeigen wollte. Sein altes Zimmer war hell und geräumig gewesen, das neue nur so breit, daß ein schmales, mit kariertem Wolltuch bedecktes Bett, ein Schreibtisch vorm Fenster und ein Schrank hineinpaßten. Ich mußte entweder auf der Wolldecke oder am Schreibtisch sitzen, alles roch nach Sigismund. Ohne anzuklopfen, pflegte seine Mutter die Tür aufzureißen und mir argwöhnisch guten Tag zu wünschen. In Sigismunds Zimmer waren wir wieder zehn.
    Der Theaterbesuch in Düsseldorf lag mehr als drei Wochenzurück. Ich kam spät aus der Schule, wir Mädchen hatten Kochunterricht gehabt und schon gegessen.
    Wie war et dann in Düsseldörp? fragte die Mutter und schob mir eine Untertasse zu, in der ein paar Birnenschnitze schwammen. För desch, sagte sie.
    In Düsseldorf? fragte ich zurück. Noch nie hatte mir die Mutter Nachtisch aufbewahrt.
    Dä Sijismund, sagte die Mutter, es ene feine Jong. Und dann erst dä Vater. Eine feine Familie.
    Maria, fuhr die Großmutter dazwischen. Die sin doch evanje- lisch!
    Da mät nix, die Mutter spitzte verschwörerisch die Lippen und blinzelte mir zu. Dann loße se sesch kattolesch traue, und die Kenger wäde kattolesch jedöv. Dat es doch hück alles nit mi esu streng.
    Noch nie hatte sie für mich gegen die eigene Mutter Partei ergriffen.
    Dat nächste Mal sachs de aber vorher Bescheid, sagte sie. Dä Sijismund kanns de och ruhisch met heem bränge. Denk dran, dat es ene feine Jong. Wenn dä ens Dokter es, kanns de däm sing Krankeschwester wäde.
    Als ich das nächste Mal im seifengrünen Kleid das Haus verließ, steckte die Mutter mir eine Rolle Pfefferminz zu wie vor der Fronleichnamsprozession. Sie stand am Tor und winkte, bis ich hinter Schönenbachs Hecke verschwunden war.
    Diesmal spiele man ein Stück, das >Nashörner< heiße, hatte Sigismund bei unserem letzten Treffen im Tischtenniskeller angekündigt. Von I-o-nesco. Nie gehört. Sigismund wußte, der Mann lebe in Spanien, sei aus Rumänien und modern. Moderne Bücher kannte ich kaum.
    Im Theaterbus hatten sich die Frauen von ihren Männern getrennt und auf den mittleren Bänken gesammelt. Noch vor zwei Monaten, so die Frau Apotheker Wirsing, die heute ihr meliertes Haar in einem lila Netz zusammenhielt, von dem rote, grüne und blaue Perlen tropften, habe man sie im Hochamt gesehen.
    Jeder wußte sofort, wer mit sie gemeint war: das jüngste Fräulein aus der Familie von Kilgenstein vom Schloßhof, deren prächtiges Grab die Mutter pflegte. Sie war um einiges älter als meine Cousine Maria, aber von jener Eleganz, die in den Magazinen für die Dame als zeitlos beschrieben wurde. Wenn sie, in unregelmäßigen Abständen, sonntags morgens in ihrem silbrigen Mercedes bei der Kirche vorfuhr, erzählte jeder, der sie gesehen hatte, dies noch tagelang. Das Fräulein war nicht ganz von dieser, zumindest nicht der Dondorfer Welt, wenn sie sommers im fließenden Plisseerock die wenigen Stufen zum Kirchplatz nahm, tanzend, schwebend, das fedrig geschnittene, schimmernde Haar wie der Helm eines Erzengels um ihren feingemeißelten Kopf. Trug sie ihren Fellmantel, puderleicht und hell, löste sich die hochgewachsene Gestalt im Winterlicht beinahe auf. Während der Meßfeier blieb sie unterm Glockenturm stehen, zusammen mit den Männern, die, kaum daß der Priester das Ite missa est gesprochen und den Segen in die Luft geschlagen hatte, die Kirche verließen, um ihre Stumpen, deren Glut sie zuvor an den Absätzen ausgedrückt hatten, eilig wieder in Brand zu stecken.
    Sie hieß Freya. Das sei der Name einer nordischen Göttin, hatte Friedel mir erklärt. Freya von

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