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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Sie trug einen Korb mit Lebensmitteln in dem einen, eine Katze im anderen Arm und kam mir bekannt vor. Ehe mir einfiel, an wen sie mich erinnerte, war sie wieder weg. Ihr folgte ein schmuddeliger Mann, der aussah wie Onkel Männ. Er war aber die Hauptperson, sprach sehr schön hochdeutsch und war anders als die anderen, die Adretten, Arbeitsamen. Das sollte man auf den ersten Blick erkennen. So einen märchenhaften Unsinn, so einen phantastischen Sinn konnte man also auf die Bühne bringen. Menschen, die sich in Nashörner verwandelten, waren Kunst.
    In der Pause schienen die Köpfe der Zuschauer wie an unsichtbaren Fäden in dauernder Schüttelbewegung. Eine Woge von ondulierten, hochtoupierten, nackenrasierten, pomadefixierten Häuptern bewegte sich schüttelnd durch die Gänge, die Treppe hinauf, ans Büfett. Einige verlangten empört ihre Mäntel. Andere ulkten, stampften und schnaubten. Ein Spaßvogel hielt sein Programm wie ein Horn vor den Kopf und schoß auf seine Begleiterin zu, die, an ihrem Nerzcape nestelnd, aus dem Wasch-räum kam und den Angriff mit einem säuerlich strengen >Aber Hans-Werner< abwehrte. Andere erfanden, angeregt durch den >Logiker< und den >älteren Herren<, absurde Wortspiele. Nahe dem Ausschank ließ ein halbes Dutzend Männer, feist und glänzend, bester Laune eine Sektflasche kreisen. Ob man ein oder zwei Nashörner habe, verhörten sie einander unter wieherndem Gelächter. Immer neue Verbindungen von Horn und Mensch wurden aufgebracht, Länge, Festigkeit und Standhaftigkeit der Auswüchse diskutiert.
    Sigismund war nicht bei der Sache. Während der Busfahrt hatte er für die Klassenarbeit Lateinvokabeln gelernt. Lieschen Bormacher sah traurig aus. Ein furschtbares Stück, seufzte sie. Verblüfft sah ich sie an. O nein, kein schleschtes Stück, janz im Jejenteil. Aber traurisch. Wat meint ihr dazu?
    War es nicht lustig, daß Menschen zu Nashörnern wurden, Sokrates eine Katze sein konnte und eine Katze mal sechs und mal keine Beine hatte? Komisch, erwiderte ich, sei das Stück, zum Lachen, ein Märchen. Lieschen lächelte. Komisch sind viel- leischt die Wörter, die Sätze. Aber hinter den Sätzen is ein anderer Sinn. Paß mal auf, wie et jetzt weiterjeht. Die Sätze meinen mehr, als wie sie beim ersten Hören erkennen lassen.
    Ich starrte die kleine, alte Frau sprachlos an. Eine feine Röte färbte ihre Wangen mädchenhaft jung. War das Lieschen Bormacher, die tagaus, tagein Stumpen und Krüllschnitt verkaufte, fromme Blättchen las, im Kirchenchor sang und im Frauenverein als Jungfrau geduldet war?
    Weißt du, Hildejard, sagte sie, mit den Sätzen ist es wie mit den Menschen. Wir jlauben, sie auf den ersten Blick, aufs erste Hören zu verstehen. Aber bei jenauem Hinsehen, bei näherer Bekanntschaft entdecken wir oft einen anderen, tieferen, schöneren Sinn oder Charakter. Un manschmal is in dem jlänzendsten Apfel der Wurm. Oder kein Jeschmack. Jlaube nie, dat du einen Menschen oder ein Buch beim ersten Kennenlernen schon verstanden hast.
    Es klingelte. Ich war froh, keine Antwort geben zu müssen. Ich war verwirrt. Sätze, die nicht meinten, was sie sagten, waren Lügen. Lügen gab es nur in der Wirklichkeit. Auf die Sätze in den Büchern konnte ich mich verlassen. Sie meinten, was sie sagten. Sagten, was sie meinten. Sogar in den Märchen. Der Böse sprach böse. Der Gute gut. Sprach der Böse gut, wußte jeder, daß er log. Wurde jemand in einen Frosch verzaubert, einen Storch, ein Reh, einen Schwan, so nur, damit er wieder zurückverwandelt werden konnte; damit ein tapferer Prinz, Müller- oder Jägerbursche, eine beherzte Prinzessin, Müllerstochter oder Kammerzofe Liebe beweisen konnte. So phantastisch das Geschehen in den Märchen war: den Boden unter den Füßen verlor man nie. Ich wußte jederzeit, woran ich war. In der Wirklichkeit war das anders. Mal traf eine Behauptung zu, mal nicht. Mal wurde ein Versprechen gehalten, mal nicht. Gegenüber Wörtern in der Wirklichkeit war ich mißtrauisch. Hier zählten Taten. >In seinen Taten malt sich der Mensch.<
    Was hatte Lieschen Bormacher gemeint, wenn sie sagte, daß ein Satz etwas anderes, Tieferes meinen könne, als man beim ersten Hören annehme? Meinte sie Gleichnisse, wie ich sie aus der Bibel kannte? Im Unterschied zu diesen Gleichnissen, die ihre Auslegung - Wahrlich, wahrlich, ich sage euch< - immer schon mitlieferten, tat uns Ionesco diesen Gefallen nicht. >Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.< Ich bin >der

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