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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Jenauso wie in dem Stück war es. Wenn es mehr wie Berenger jejeben hätte, wäre mein Heinrisch noch am Leben. Verstohlen stupste ich Sigismund mit dem Ellenbogen und sah ihn von der Seite an. Jetzt kramte er in der anderen Hosentasche.
    Ja, sagte Lieschen, zu Fräulein Behrens gewandt. Der Heinrisch hätt nie in den Kriesch jemußt. Und all die anderen auch nischt. Der Pastor Böhm wäre noch am Leben und viele andere auch. Verstehst du misch, Hildejard? Ich nickte und zuckte mit den Schultern. Nein, ich verstand sie nicht.
    Einer nach dem anderen, Kind, einer nach dem anderen. So war dat damals. Die einen aus Überzeujung, die anderen aus Angst. Unheimlisch ist dieser Drang, dazujehören zu wollen. Mitzulaufen. Dabeizusein. Dat ist es, was die Nashörner sagen wollen. Jedenfalls in der Hauptsach. So wie dreiundreisisch und später. Und jlaubst du, die hier hätten was jelernt? Was bejriffen? Nashörner! Nashörner allesamt. Nashörner! schrie Lieschen, ihre zarte Stimme zum Zerreißen gespannt. Sie nickte mir zu und verschwand wieder in ihrem Sitz. Im Bus war es still. Manräusperte sich. Gleich war man zu Hause. An der hellerleuchteten Raffinerie schon vorbei. Gleich würde das Licht angehen. Gleich würde man einander ins Gesicht sehen. Sigismund putzte sich die Nase. Er hatte endlich sein Taschentuch gefunden. Ich hatte verstanden. Auch Sätze, die nicht sagten, was sie meinten, konnten wahre Sätze sein. Aber sie machten es einem schwer.
    Die Theaterbesucher gingen schnell auseinander. Verlegen wünschte man sich gute Nacht. Lieschen Bormacher strich mir über den Kopf. Berührungen, besonders im Gesicht, wich ich sonst unwillkürlich aus. Hier hielt ich still. Sah die Hand kommen und senkte den Kopf.
    Isch wußte, daß du am Ende verstehst, sagte Lieschen. Nashörner jibt es überall. Und es ist ansteckend. Immer. Jederzeit.
    Mein Vorbehalt gegen Sätze, die nicht sagten, was sie meinten, blieb bestehen. Sie brachten viele zum Grunzen und nur wenige zum Nachdenken. Ich wollte Klarheit. Wegen eines einzigen Satzes hatte ich mir, schon vor dem Besuch der >Nashörner<, mein erstes gebundenes Buch gekauft: Gedichte von Rilke in der Reihe >Bücher der neunzehn<. Die Summe hätte für fünf Taschenbücher gereicht. Aber der Satz >Du mußt dein Leben ändern< war es wert. Bücher sollten sich um mich kümmern. Ich wollte spüren, daß ich ihnen etwas bedeutete. Schöne Sätze wollte ich, aber auch wahre Sätze, die mir sagten, wer ich wirklich war, was ich tun und wohin es gehen sollte.
    >Du mußt dein Leben ändern.< Das wollte ich. Mit meiner Jahresarbeit. Der Bericht über die Atombombe aus der >Kri- stall< trieb mich um. Georg hatte mir von Protestbewegungen erzählt: >Kampf dem Atomtod<. Damals hatte ich Dunja im Kopf. Jetzt wollte ich die Menschen aufrütteln, aufschrecken, daß sie >Nein!< riefen, >Nie wieder!<, so, wie Lieschen Bormacher im Bus >Ruhe!< gerufen hatte. Aus ihrem innersten Wesen heraus, einem Ort vor allen Gedanken und Überlegungen. Wo sie sich eins mit allem fühlte, verantwortlich für alle, nicht nur für sich. Aller Menschen Leben wollte ich ändern. Daß dazu auch der Vater, die Mutter, die Großmutter, Tanten, Onkel und Cousinen, die Nachbarn gehörten, schob ich beiseite wie einen Stuhl, der im Weg steht.
    Es war an einem Apriltag, draußen schien die Sonne, auf der
    Wiese nebenan sah ich Birgit, gerade von der Arbeit gekommen, mit Piepers Kindern spielen. Ein Sprung übern Zaun, ich war bei ihnen. Die Mädchen hantierten gern mit meinen Haaren, und ich genoß die eifrigen, ungeschickten Händchen, die mir den Zopf lösten, zwischen die Flechten fuhren und die Strähnen durcheinanderwarfen. Birgit zog einen Kamm aus ihrem blau-weiß gestreiften Matchbeutel - ich beneidete sie darum, sie verdiente ihr eignes Geld -, und wir spielten Friseur. Ich schloß die Augen, um mich herum das Plappern der Kinder, Birgit summte >Cindy, o Cindy<. Ich dehnte mich, blinzelte, die Wiese war übersät mit Butterblumen, gelbe Punkte, gelbe Blitze, als die Atombombe kam, ich sprang auf, rannte zum Zaun, trat in den Draht, fetzte ein Dreieck in den Rock, warf die Tür vom Holzschuppen hinter mir zu. Schrieb von gelben Punkten auf einer Wiese, von gelben Blitzen, Butterblumen, vom Tod.
    >Unzählige Butterblumen< nannte ich die Geschichte. >Am Morgen hatte die Mutter sie mit guten Ermahnungen fortgeschickt. Und sie trollten sich in den blühenden Park. Sie spielten unbekümmert, unbeschwert, hingegeben wie

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