Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
alle Kinder. Die Jungen rauften sich und balgten, die Stärkeren neckten die Schwächeren. Auf der Wiese mit den unzähligen Butterblumen hockten die Mädchen und spielten zärtlich mit ihren Puppen. Sie wurden nicht müde, ihnen die langen, schwarzen Zöpfe zu flechten, sie banden ihnen Blätter und Blüten ins Haar; jede wollte die schönste besitzen. Bunte Bälle flogen mit den Schmetterlingen um die Wette, fröhliche Mädchen streckten die Hände nach ihnen aus.
    Kazuo Karl auf der Wippe konnte es gar nicht hoch genug gehen; mit kräftigen Fußtritten stieß er sich höher und höher - am anderen Ende brüllte der Junge begeistert Beifall. Alles war laut, lebendig, bewegt, wie immer auf Spielplätzen überall in der Welt, bis
    die Atombombe kam, der todesgelbe Riesenball,
    der die bunten Bälle der kleinen Japaner Dondorfer in Atome zerriß. Vor wenigen Sekunden noch wurde der Ball geworfen von Menschenhand, nun schleuderte die Todeskugel brandschwarze Kinderleichen in das Sonnenlicht. Die sommerdurch-tränkte Luft, die hellen Stimmen, das knospende Leben ersetzte die Bombe durch höllische Helligkeit, Getöse und grausigen Tod. Schwarze Rauchschwaden stiegen, mahnenden Geisterfingern gleich, aus dem nicht mehr blühenden, nun weißglühenden Park, der in wenigen Sekunden zur Wüste geworden war, rauchschwanger, verkohlt. Kinderleichen, unkenntlich verstümmelt, lagen verstreut, wie eben noch die gelben Butterblumen. Kein Rasen mehr, nur radioaktive Masse, Brutstätte lebensvernichtender Seuchen.
    Und der Junge Kazuo Karl saß noch auf der Wippe, und seine Beine, fleischlose Kohle, schwangen langsam hin und her.<
    >Läßt für die Sterblichen größeres Leid sich je denken, als sterben zu sehen die Kinder?< ließ ich Euripides aus meiner >Schöne Sätze<-Sammlung kommentieren.
    Und ich dachte an Abel, den Jungen, den ich nicht mehr in die Arme nehmen konnte.
    Fast hätte ich bei Maternus nicht wieder nach Arbeit gefragt. Ich fürchtete, Georg wiederzusehen, dem ich für seinen Weihnachtsgruß und den himmelblauen Schal nie gedankt hatte.
    Herrlich war der Sommer wie im Jahr zuvor. Diesmal würde er doppelt glühen. Sigismund würde um fünf vor dem Fabriktor stehen, lässig an sein grünes Sportrad gelehnt, mit seiner schmalen Sonnenbrille, wie James Dean in >Jenseits von Eden<.
    An langen, hellen Abenden würden wir durch Porreefelder und Kohl aller Arten, durch Wiesen und Weiden an der Reithalle vorbei zum Rhein gehen. Und nicht nur auf dem Damm. Am Kristoffer Kreuz würden wir uns umschauen nach allen Seiten. Sigismund nähme meine Hand und liefe los, ich hinterher, die Böschung, den Kiesweg hinunter, am Schilf entlang zu den Weiden am Rhein. Jauchzen und laufen, wie ich als Kind gelaufen war, weg von der Hand des Großvaters und wieder zurück an seine Knie. Da, wo der Weg in die Weiden biegt, würde ich stolpern, Sigismund mich auffangen, auffangen müssen, und ich läge an seiner Brust. Anlächeln würde ich ihn, verführerisch schön wie die weiße Beate im schattigen Park. Würde ihn küssen, nein,er würde mich küssen, ja, wir würden uns küssen, und ich könnte endlich ergründen, was es mit den Zungenverschlingun- gen auf sich hatte. Immer wieder hatte ich in den letzten Wochen Sigismund beiläufig nach englischen Vokabeln mit ti eitsch gefragt und dabei seine kurze, spitze Zunge studiert. Ich wollte wissen, worum es ging bei all dem Verschmelzen, Verströmen, Vergehen, das ich Doris in immer neuen Verwandlungen seit Monaten auftischte. Alles nahm sie für bare Münze. Erfindungen für Erfahrungen. Ich wollte es wissen.
    Abends um fünf, wenn Sigismund mich abholen käme, wäre es noch heiß. Im Personalbüro würde ich nach der ersten Woche einen Abschlag holen und den Badeanzug kaufen, den ich mir bei Alma Mader hatte zurücklegen lassen, türkis mit weißen Aufschlägen, stäbchenverstärkt. Die graue Decke, die der Großvater bei unseren Gängen unter dem Arm getragen hatte, lag jetzt als Polster für meinen Stuhl im Holzstall. Auf dieser grauen Decke zwischen den Weiden, wo wir unsere steinernen Ritter, Knappen, Prinzessinnen und Könige hatten kreisen lassen, sollte es geschehen. Verschmelzen, verströmen, vergehen, im Laubschatten der Weiden, bei den Wellen vom Rhein.
    Am letzten Schultag steckte mir der Bruder nach Monaten wieder einen Zettel zu. Ich hatte Sigismund noch tags zuvor beim Tischtennis getroffen. Wir hatten überlegt, was wir im Sommer lesen wollten. Gegen Ende der Ferien würde

Weitere Kostenlose Bücher