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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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nichts vorstellen konnte, war ein Lexikon nützlich. Waren einem die Wörter ausalltäglichem Gebrauch vertraut, stiftete es Verwirrung wie im Märchen, trennte die Wörter von den Dingen und Vorgängen, warf die Schöpfung in ihren Anfang vor allen Anfang zurück, vor ihrem Anfang im Wort. Chaos. Gebrabbel.
    Was kostet denn so ein Buch? fragte ich.
    Einzeln werden die Bände nicht verkauft, erwiderte Herr Maier. Das Lexikon kostet bei Barzahlung fünfhundertsiebzig, bei Ratenzahlung siebenundvierzig Mark im Monat, sechshundertdreißig Mark zusammen.
    Fünfhundertsiebzig Mark! Beinah tausend Reclamhefte. Mehr als vier Monate Arbeit bei Maternus!
    Aber hier, Herr Maier bewegte sich von den uniformierten Bänden weg in Richtung der zusammengewürfelten, bunten und machte zwei knappe Striche mit der Hand durch die Luft, an zwei Regalbrettern entlang. Hier stehen die einbändigen. Das hier gibt es schon für fünfzig Mark. Das Buch war etwa so groß und dick wie ein Lexikonband. >Ich sag dir was<, verkündete es anbiedernd und großmäulig. Mir nicht, dachte ich und schüttelte den Kopf, als Herr Maier mir das Buch in die Hände legen wollte. Ich mochte es nicht einmal anfassen. Auch die anderen einbändigen - >Die ganze Welt von A bis Z«. >Unser Wissen«. >Das Wissen der Menschheit« - ließen mich kalt. Ich war dem wahren, großen Wissen begegnet und verschmähte kümmerlichen Ersatz. Herrn Maier zuliebe, der sich alle Mühe gab, den überwältigenden Eindruck der mächtigen Truppen zu verwischen, tat ich, als zöge ich den >Brockhaus für alle« in Betracht. Weder Minerva« noch >Odermennig< fand ich darin, ein guter Vorwand, Abstand zu nehmen. Sicher hatte der Buchhändler mich durchschaut, als er mir vorschlug, wann immer ich Lust hätte, ihn zu besuchen und, was ich wissen wolle, aus dem großen Brockhaus abzuschreiben. Worauf ich gleich im Laden nebenan ein dickes Rechenheft kaufte: WISSEN draufmalte und mit >Minerva«, >Ich< und >Odermennig< begann.
    Am nächsten Tag paßte Peter mich nach dem Hochamt ab. Bei den Männern, die schon wieder ihre Stumpen und Zigarrenstummel schmauchten und auf ihre Frauen warteten. Spitzer noch als die Blicke der Arbeiterinnen am Fabriktor fühlte ich die
    Augen der Kirchgängerinnen in meinem Rücken, als ich mit Peter Seite an Seite, wenn auch nicht Arm in Arm, den Kirchhang hinunterbalancierte, Schritt für Schritt auf halbhohen Pfennigabsätzen, Peter zu meiner Linken, das weiße Handtäschchen aus echtem Leder, das ich mir statt des Lexikons gekauft hatte, unterm rechten Arm. Jeden Ellenbogenstoß glaubte ich zu spüren, jedes Tuscheln zu hören: Do jeht dat Weet vom Kringiis Maria met dem Benders Pitter. Dä hät jet an de Föß. Dä kööf jitz och noch der janze Kiesbersch. Das mit dem Kiesberg hatte Peters Mutter der meinen erzählt. Die beiden trafen sich nun fast täglich. Zufällig, wie die Mutter betonte, die mir nachher jedesmal Peters Loblied sang. Wer dä Peter mal krischt, der krischt dat jroße Los. Dat muß sisch de Häng nit mi dräckisch mache. Dabei drehte sie ihre kleinen, verarbeiteten Hände wie ein Fähnchen hin und her und nickte mir aufmunternd zu.
    Das große Los trug heute einen beigen Popelinanzug, mindestens eine Nummer zu klein, aber wie neu. Die Hosenbeine so kurz, daß die Haut überm Sockenrand bei jeder Bewegung aufschien. So schnell es meine Absätze erlaubten, trippelte ich den Rheinwiesen zu. Nur nicht neben diesen Hosen durchs Dorf.
    Kaum im Grünen, wandte sich Peter einem Pflänzlein zu, und ich vergaß seine Anzugbeine, sah nicht mehr auf den Knopf, der beim nächsten Atemzug abzuplatzen drohte. Folgte seinen rotgebürsteten, braunen Fingern, wie sie die Pflanze hielten, drehten und wendeten, sie auskundschafteten.
    Von seinen Augen geführt, ergründete ich den Feldmohn, die Klatschrose, den schwarzen Fleck am Grunde der scharlachroten Blütenblätter, ihren zweiblättrigen Kelch und die vierblättrige Blumenkrone, entdeckte Staubgefäße und Fruchtknoten und leckte vom Milchsaft an meiner Fingerspitze. Auch von dieser Blume wußte Peter Geschichten, wie sie der Großvater nicht schöner hätte erfinden können. Blutströpfchen werde die Blume auch genannt, weil Adonis, dies sei der Name des Lieblings der Aphrodite, nein, wer das sei, wisse er nicht, das stehe nicht im Buch, dieser Adonis also sei eines Tages von einem Eber verwundet worden, und aus den Blutstropfen, die er verloren habe, seien Blumen gewachsen. Dies jedenfalls habe ein

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