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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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meiner beigen Freunde. Hier. Mit einer weit ausholenden, liebkosenden Armbewegung schwang Herr Maier seine dünne Hand die Regale entlang. Hier, junges Fräulein, hast du alles. >Brockhaus<, entzifferte ich. >Meyers großes Konversationslexikons Für jeden Buchstaben ein ganzes Buch, mitunter zwei. Siebenundzwanzig Bücher in Uniform, dunkelblaues Leinen, rote und goldene Buchstaben, strammgestanden in Reih und Glied. Genau diese Sammlung hatte ich im Lehrerzimmer gesehen, als ich Fräulein Abendgold das Notizbuch nachgetragen hatte. Verschlossen hinter Glas. Das Geheimnis der Lehrergelehrsamkeit.
    >Minerva< soll es sein, richtig, sagte Herr Maier und schob die vier Finger seiner rechten Hand flach in den schmalen Spalt zwischen die obere Kante des >Brockhaus<-Bandes acht, >Mik bis Par<, und die Unterkante des Regalbretts, preßte das Buch aus der Gemeinschaft, bis er es mit dem Handteller der Linken auffangen konnte. In diesem behutsamen Zugriff spürte ich die gleiche Fürsorge, dasselbe Gefühl, eine Wohltat zu tun, wie es mich überkam, wenn ich ein Reclamheft aus dem Regal zog. Befreiung. Das Buch war nur wenig kleiner als unser Heiligenbuch. Da, nimm, sagte der Buchhändler, und legte das Buch in meine nach oben gekehrten Handteller, als übergebe der Pastor seinem Meßdiener das geöffnete Meßbuch.
    Das Lexikon war geschlossen. Es hatte auch keine bunten Bänder, wie sie aus dem Meßbuch herausflossen und nach Regeln, unerforschlich wie die Pfade der Meßdiener, zwischen den Seiten bewegt wurden. Ich stand da und rührte mich nicht. Es war herrlich, das Gewicht dieses Buches zu fühlen. Als könnte ich es mir buchstäblich einverleiben, Blatt für Blatt, mit Leinen und Pappe, Druckerschwärze und goldener Prägung, drückte ich meinen Bauch gegen seine Kante. Ich preßte das Buch nicht an mich, ich warf mich ihm entgegen. Das Buch wollte nichts von mir, ich alles von ihm.
    O du wunderbare Zeit vor dem ersten Aufschlagen eines Buches. Wie Vorjahren, als ich mit dem ersten eigenen Buch auf die Speichertreppe geflohen war, kostete ich hier in der Maierschen
    Buchhandlung wieder einmal die Wonnen der Verzögerung, des Unentschiedenen aus, die Spanne zwischen Verharren und Handeln, zwischen Noch und Schon, in der Bald und Jetzt zusammenfallen, Dauer voller Verheißung und Augenblick. Bis mich jemand an der Schulter rüttelte, sanft, wie man einen glückseligen Träumer weckt. Herr Maier war vor mir in die Knie gegangen. Ich konnte direkt in seine Augen sehen, Anianas Augen.
    Maier durchschaute mich. Wir wußten uns eins. Hier über dem Lexikon, Band acht, >Mik bis Par<, erkannte der Buchhändler in dem halbwüchsigen Mädchen eine aus dem geheimen Orden der Leser. Für die Lesen mehr ist als ein Vergnügen, mehr als ein Laster, einfach das Leben. Ich hatte nun auch gar keine Angst mehr vor Herrn Maier, fühlte mich bei ihm in meinem Element. Ganz selbstverständlich handhabte ich >Mik bis Par<, legte das Buch auf ein eigens für schwere Bücher vorgesehenes Pult, dem Meßbuchständer nicht unähnlich. Und zögerte noch einmal. Sah mich nach Herrn Maier um. Der nickte. Lächelnd. Wie hatte mich dieses Lächeln jemals einschüchtern können! Soviel Verständnis las ich in diesem Blick. Und Wehmut. Der Buchhändler wußte um den Augenblick der Vorfreude als höchstem Genuß und daß wir nicht in ihm verharren können. Er nickte noch einmal, hob die Schultern und öffnete die leicht angewinkelten Arme nach außen, die Handflächen nach oben gekehrt, Mickels Geste, wenn er vom Großvater kam, bedauerlich, sagten die Hände, nichts zu machen.
    Ich legte Mittel- und Ringfinger der rechten Hand auf die Längsseite des Buches, den Daumen auf seine Unterkante und zog einen Teil der Seiten irgendwo nach oben. Es schlug sich bei >Mo< auf. >Monat< war das erste Wort, auf das mein Auge fiel. Was hatte ein >Monat< in einem Lexikon zu suchen? Was ein Monat war, wußte doch jeder. Ein Monat waren dreißig Tage oder einunddreißig, der Februar hatte achtundzwanzig und alle vier Jahre einen Tag mehr. Und zwölf Monate waren ein Jahr. Also, was war ein Monat?
    >Im allgemeinen«, las ich, >die Umlaufzeit des Mondes (s.d.) um die Erde. Man unterscheidet mehrere Arten der Monate. Betrachtet man nämlich die Zeit, binnen welcher der Mond wieder vor demselben Fixstern erscheint, so ist dies sein siderischer Umlauf, und die Periode desselben wird der siderische M. genannt. Die Umlaufzeit des Mondes aber, vom Frühlingspunkt an gerechnet

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