Das verborgene Wort
gewisser Ovid, so sein Buch, geschrieben. Nein, er wisse nicht, wer Ovid sei.
Es war schön, Peter zuzuhören, wenn er von Pflanzen sprach, die er kannte. Was über eine Blume im Buch seines Großvaters stand, konnte er Wort für Wort wiederholen. Auf Hochdeutsch mit einem kaum wahrnehmbaren Anflug von Dialekt. Doch er hatte, was er aufsagte, auch begriffen. Fragte ich nach, so erklärte er mir alles noch einmal mit eigenen Worten. Mischte dabei Wendungen aus dem Großvaterbuch und botanische Fachausdrücke im reinsten Hochdeutsch in seine Mundart, als spräche er zwei verschiedene Sprachen.
Lange nach dem Mittagessen kam ich nach Hause. Die Mutter verlor kein Wort. Sie hatte mir ein Stück Fleisch, Soße und Kartoffeln warm gehalten.
Na, sagte sie, erzähl.
Wußtest du, sagte ich, daß Erbsen und Linsen den Toten und Unterirdischen, zum Beispiel den Zwergen, geweihte Speisen sind? Daß einer der Vorfahren Ciceros ein erbsenähnliches Gewächs auf der Nase hatte und Cicero zum Andenken daran auf einem silbernen Becher, den er den Göttern weihte, nur seine Vornamen Marcus Tullius eingravieren, statt des Familiennamens aber eine Erbse darauf abbilden ließ?
Die Mutter schaute mich an, als sei ich nun reif für Jeckes. Es dat alles? stieß sie ärgerlich hervor. Wat soll dä Verzäll, wovon habt ihr jesprochen? Mit Hochdeutsch versuchte die Mutter stets, mich gesprächig zu stimmen.
Über Erbsen, sagte ich wahrheitsgemäß. Die Erbse gehört zu den Schmetterlingsblütlern oder...
Verzäll! schnitt die Mutter mir das Wort ab. Övver Ääze! Et is doch nit ze jlöve!
Ja, sagte ich, über Erbsen, und morgen über Bohnen.
Tatsächlich hatte Peter versprochen, am nächsten Tag mit mir in die Bohnen zu gehen, hatte mich dazu eingeladen wie zu einem Theater- oder Kinobesuch, sich einen Weg ausgedacht, der durch die großen Gemüsegärten am Kristoffer Kreuz mit ihren Schnitt-, Schwert- und Stangenbohnen über die Saubohnenfelder bis an den Rheindamm führte. Wie immer hatte er seine braune Aktentasche bei sich, die tagsüber mit Thermos- kanne und Butterbrotpaketen hinter einem Grabstein verstaubte. Meist hielt er sie am Griff und versetzte sie beim Gehen in achtlose Schlenker.
Diesmal trug er sie anders. Als seien seine Arme, seine Hände, sein ganzer Körper nur zum Schutz dieser Tasche da. Er preßte sie an die Brust, den Oberkörper vornübergebeugt, und löste seine Rechte nur, um die meine kurz zu drücken.
Es war einer dieser späten Julinachmittage im Rheinland, drückende Schwüle, wenig Westwind vom Strom, der Himmel von der Farbe entrahmter Milch, so durchscheinend weißlichblau. Kränklich. Staub dämpfte das Grün der Pflanzen, die Blüten der Blumen in den Vorgärten und Gemüsegärten, die wir bald erreichten. Hier wuchsen an den Zäunen flammendroter und lilaweißer Phlox, blühte Calendula von Blaßgelb bis Grellorange, büschelweise standen Glockenblumen und Lupinen, alle krönte der Rittersporn, blau wie der Himmel auf Heiligenbildern.
Vor einem der Gärten, einem grünen Dschungel, blieben wir stehen. Schweigend waren wir bis hierher nebeneinander hergetrottet. Peter hatte seine Tasche kein einziges Mal aus der Umklammerung genommen.
Weißt du, was das ist? fragte Peter und löste zum zweiten Mal an diesem Tag seine Rechte von der Tasche, um in einer weit ausholenden Geste einen Bogen in Richtung des Dickichts zu beschreiben.
Natürlich, sagte ich, Bohnen.
Bohnen, natürlisch, erwiderte Peter. Un weißt du, wat Bohnen sind?
Gemüse, sagte ich.
Hmm, brummte Peter, löste die Aktentasche von der Brust, wischte sich die Rechte am Hosenbein ab, wo sie im beigen Popeline deutliche Spuren hinterließ, drückte die Schnappschnallen auf und fuhr mit der Hand vorsichtig, als gelte es, Kostbares oder Gefährliches zu bergen, ins Innere der Tasche. Heraus brachte er einen Gegenstand, etwa so groß wie ein Zigarrenkästchen, in braunes Packpapier gebunden. Das wickelte er ab, und hervor kam ein Buch, noch einmal in Packpapier gehüllt.
Das, sagte Peter, und sein Hochdeutsch war beinah vollkommen, das ist das Buch des Jroßvaters. Das Buch überm Kopf wie Moses die Gesetzestafeln, die Aktentasche zwischen die Knie geklemmt, schaute Peter mich an.
Zeig, sagte ich.
Doch Peter, der sich zweifellos ohne Zögern ein unübersehbares H in die Haut geschnitten hätte, war nicht willens, das Buch auch nur für Sekunden in meine Hand zu legen, als fürchte er den Verlust eines geheimen Zaubers.
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