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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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meiner. Wir ließen einander schnell wieder los und strichen mit ein und derselben Bewegung unsere Röcke glatt. Diese Halme steckten jahrelang in einer Vase. Zuerst auf dem Radio, später auf dem Fernseher. Jeder mußte sie bewundern, wenn die Mutter erzählte, daß de Kenger sie gefunden hätten, als sei das eine Heldentat.
    Im Großvaterbuch las ich, daß das Zittergras zu den sogenannten >Rupfblumen< zählt. Pflanzen, die man, als man noch keine Knöpfe zum Abzählen hatte, durch Rupfen des Samens oder der Blütenblätter fragte, was man tun sollte oder was es zu hoffen gab. Schon Tacitus kannte das alte Orakel, und Walter von der Vogelweide sang: >Mich hat ein Halm gemachet froh.< Ob auch die Mutter einmal über dem Zittergras gesessen und gefragt hatte: Von Herzen, mit Schmerzen, ein wenig, gar nicht?
    Als die nächste Karte von Sigismund kam, blauer Himmel, blaues Meer und ein Mann auf einem Esel, wortlos, aber mit unzähligen Kreuzchen, schlich ich ans Zittergras und nahm einen Halm heraus. Ich sammelte die Kapseln im Schoß. Mit Schmerzen. Ich warf die Körner den Hühnern vor. Die stürzten sich darauf, als gäbe es was zu gewinnen. Ich hatte tagelang schlechte Laune. Halme lügen nicht. Die Ferien waren in wenigen Tagen zu Ende.
    Darf ich kommen? fragte der erste Zettel von Sigismund. Wohin? gab ich zurück.
    Zu dir. Mit zahllosen Kreuzchen und ganz klein: Es tut mir leid. >Liebende leben von der Vergebung<, hieß einer meiner schönen Sätze.
    Sigismund kam zurück mit spanischen Augen. Ich las in seinen Augen nichts als vergangene Zeit, Ferienzeit, eine Zeit ohne mich in einem fernen Land, einem Land ohne mich, eine Zeit mit Bikinimädchen am Meer, Palmen, Sandstrand, Luftmatratzen, Beate Maternus. Auch sein Geruch war fremd und griff mich an wie die Luft in Benders Treibhaus. Nur wenn er glaubte, ich merke es nicht, blickte Sigismund mich an, als suche er etwas, was er verloren hatte. Bei mir, in Spanien, allein oder mit anderen. Bei schweren Sünden die Zahl angeben. Wir umkreisten uns mit Blicken, mit Gesten, mit unseren Gerüchen. Vor allem aber mit Worten tasteten wir uns ab, um das Alte, Vertraute wiederzufinden, und gerieten nur immer tiefer in unvertraute, verwirrende Bereiche. Ich erzählte Sigismund nichts von den Frauen bei Maternus, nichts von meinem Herbarium und von Peter schon gar nicht. Und ich erfuhr von San Sebastian nicht mehr, als ich in jedem Reiseprospekt hätte lesen können. Wir fragten einander auch nicht danach. Versuchten, die vergangenen Wochen aus unserem gemeinsamen Leben zu zwängen, wie man einen unliebsamen Menschen aus einer Reihe drängt, mit kaum sichtbarer Gewalt und ohne daß auch nur für Sekunden eine Lücke entstünde. Von Alltäglichem sprachen wir kaum. In den ersten Tagen am Tischtennistisch oder beim Billard fragten wir noch beiläufig nach den Noten der letzten Klassenarbeit, dem Pflaster am Daumen, der dicken Lippe von einem Wespenstich. Strikter noch als zuvor wich ich seinen Berührungen aus, mochten sie zufällig oder absichtsvoll sein, riß mich beim Tischtennisspielen zusammen, spielte ernst, ja verbissen, schnippelte und schnitt die Bälle, schmetterte ihm all die Unruhe, all die Spannung, in die er mich versetzte, entgegen. Es war ein Kräftemessen, dieses Spiel, eine Darstellung unserer Sinnlichkeit, Körperlichkeit, ein Ausprobieren unserer Anziehungskraft auf neutralem Boden. Ping-pong. In der Regel war ich die Unterlegene. Doch wenn wir uns in den Pausen schwitzend und außer Atem gegenübersaßen, zwischen uns die ganze Breite des Tisches, und uns nun Sätze statt Bälle zuschlugen, behielt ich die Oberhand. Worüber wir sprachen, war Nebensache. Wir kamen vom Wetter auf Kant, von dessen gestirntem Himmel ich gerade etwas aufgeschnappt hatte, von Kant auf Kleist, von Kleist auf Nietzsche,von Nietzsche auf Krähen, von Krähen über Schwarz nach Afrika.
    Bisweilen ließ ich ihm den Vortritt, gönnte ihm die Illusion der Überlegenheit. Dazu muß man den Mund halten und so tun, als höre man gebannt zu. Was nicht dasselbe ist wie Zuhören. Auf das echte Zuhören zu verzichten ist sogar besser. Es nimmt zuviel von der Energie, die man braucht, um den Anschein ehrlichen Zuhörens aufrechtzuerhalten. Oft, wenn ich mich tatsächlich auf den Sinn der Sätze meines Gegenübers konzentrierte und nicht nur hinter der Maske äußerster Aufmerksamkeit ihren Klang an mir vorbeiströmen ließ, bekam ich zu hören, du hörst ja gar nicht zu. Ich hatte

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