Das verborgene Wort
ergangen wäre.
In Doris verband sich für mich die Wirklichkeit mit meiner erlesenen Welt. Der Welt der schönen Menschen, der Wohlhabenden, deren Sorgen Seelensorgen waren. Sie mußten nicht donnerstags die Pfandflaschen zusammensuchen, um Geld für ein Stück Edamer zu haben, weil der Vater erst freitags der Mutter den Lohn aus der beigegelben Packpapiertüte hinzählte. Kannten nicht den Klang des Wortes Manko, wenn die Mutter sagte: Mir sin ald widder im Manko. Doris trug plissierte Organzaröcke im Sommer und Treviraröcke mit Dauerfalten im Winter. Doris trug Latz- und Keilhosen, Pullover aus Nickiplüsch und Angora. Sie besaß eine Korallenkette und dazu passende Ohrringe. Eine Kette aus Türkisen und einen Anhänger aus Bernstein mit eingeschlossener Fliege. Ein dünnes Silberkettchen für das Handgelenk, an dem dicht an dicht Städtewappen baumelten. Ein Granatkreuz am schwarzen Samtband.
Ehrfürchtig sah ich auf alles, was Doris besaß. Stunden konnten wir vor dem dreiteiligen Spiegel verbringen, dem Spiegel des Schminktisches, den sie nebst geheimnisvollen Flaschen und Tiegeln, Cremes für morgens, Cremes für abends, Milch zum Waschen wie die Königin Kleopatra zum Geburtstag bekommen hatte. Wir malten uns die Lippen rot, wischten kreisrunde
Flecken auf die Backenknochen, ich drehte Doris' feines Haar auf Lockenwickler und kämmte es, bis sie aussah wie Hildegard Knef in der >Sünderin<. Doris löste meine Zöpfe und flocht mir eine Krone mit bunten Seidenbändern wie >Piroschka<. Bei Doris durften wir in die Küche an den Elektroherd mit Blitzplatte. Auf Stufe drei schmolzen und bräunten wir Butter und Zucker zu einer blubbernden Masse, schütteten Haferflocken hinein, und einmal sogar Kokosraspel, und aßen das Ganze mit Eßlöffeln direkt aus der duftenden Pfanne.
Mich besuchte Doris auch. Viel seltener als ich sie und nur im Sommer. Wo hätte sie schlafen sollen, wo sich waschen? Wenn Doris kam, kaufte die Mutter ein Schnitzel. Sie zerschnitt es in der Pfanne und schob der Freundin den größeren Teil über den Rand auf den Teller. Doris war empört. Glaubte man etwa, sie hätte zu Hause nicht genug zu essen? Meine Mutter würde so was nie tun! Und tauschte die Stücke.
Nach dem Essen machten wir lange Spaziergänge durch die Felder an den Rhein, am Ufer entlang. Wir erzählten einander all unsere Krankheiten und Unfälle. Sie hatte sich einen Arm gebrochen, da war sie drei, im gleichen Jahr, als mich der Kettenhund ins Bein gebissen hatte. Wir erzählten uns, wovor wir uns fürchteten. Kapuzenmänner, Skelette, Monster und Bestien log ich. Vom Vater kein Wort. Was unsere liebsten Farben waren, unser Lieblingsessen, unser Lieblingseis. Glücklich waren wir, wenn wir beide blau sagten oder Schokolade und hörten, daß die Rose unser beider Lieblingsblume war. Noch eine Lüge, der Gemeinsamkeit zuliebe. Dafür schmeckte nun samstags die Linsensuppe, weil auch Doris sie gerne aß.
Wir zupften die Wolle der Schafe von den stachligen Drähten der Zäune und strichen damit liebkosend über unsere Wangen, die nackten Arme, erzählten uns von unseren künftigen Ehemännern, wieviel Kinder wir haben und wie wir sie nennen würden. Doris natürlich das erste. Sogar die Farbe der Haare und Augen unserer Zukünftigen legten wir fest. Und vor allem ihre Berufe. Robert als Herr auf dem Kappelner Gut. Ich hielt an meinem Prinzen fest. Zumindest eine Freifrau wie die vom Schloßhof wollte ich werden, mit Garten, Park und einer unerschöpflichen Bibliothek.
Es war an einem der letzten Septembertage, als ich Doris zum ersten Mal nach den Sommerferien wieder besuchte. Das sonnenweiß geblichene Haar umgab ihr gebräuntes Gesicht wie eine Kappe aus Schnee. Arme und Beine entlang glitzerten silberne Härchen auf goldener Haut. Sie war noch größer geworden, überragte mich nun um einen Kopf. Wir hatten Wichtiges zu besprechen.
Robert hatte Doris nach den Ferien zwar noch einige Male von der Schule abgeholt, doch zu ihr nach Hause war er nicht mehr gekommen, und was schwerer wog, in die >Bäume< hatte er sie auch nicht mehr bestellt. In Dodenrath, bekannt durch Obstanbau, Most und Marmelade, geschah in den >Bäumen<, ausgedehnten Apfel-, Birnen-, Kirschbaumfeldern mit Bänken hinter Himbeer- und Brombeerhecken, das, was in Dondorf >Hinterm Damm< passierte. Das Verschwiegene, Heimliche, den Augen der Dorfbewohner zu Verbergende, Liebeshändel zumeist. Keine Zeit, sage er, klagte Doris. Das Abitur stehe bevor, und
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