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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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sondern ihre Idee, nicht länger Natur, sondern Kunst. Die Pflanze hatte die Welten gewechselt. Nicht als Peter aufgestanden war, jetzt, beim Anblick dieser verblichenen Schönheit kamen die Tränen. Es tat gut zu weinen, wenn etwas zu Ende war, etwas in einen anderen Zustand gewechselt hatte; nie mehr so dasein wird, wie wir es einmal gekannt hatten, aber anders und auf eigene Weise schön.
    Links unten hatte Peter den Namen der Pflanze auf Lateinisch und Deutsch, den Fundort und das Datum geschrieben. Unsere Wege, unsere Tage. In Druckbuchstaben, ebenmäßig und ausdruckslos wie sein Gesicht.
    In den nächsten Tagen saß ich nach der Arbeit mit dem Großvaterbuch hinterm Hühnerstall. Jetzt wußte ich auch, wer das Buch geschrieben hatte, Carus Sterne, vor fast hundert Jahren. Ich schwelgte in Pflanzen, ihren Namen und Geschichten und in ihren Abbildungen, farbigen Holzstichen, natürlicher als jede Natur.
    Von Sigismund kam eine zweite Karte, wieder mit viel Himmel und Meer, einem Boot, diesmal ohne Mädchen. Zwei kleine Gestalten waren in die Fotografie gemalt. Ein Wesen im Rock am Ufer, das einem Hosenzwerg im Boot zuwinkte. Ich bin bald wieder da, hurra, vermerkte die Rückseite. Die Unterschrift war mit zwei Herzen verziert, als küsse sich der Unterzeichnende selbst.
    Am Sonntag nach dem Hochamt, ich war schon bei den Schlußtakten des >Ite missa est< durch den Nebenausgang ins Freie geschlüpft, wartete Hanni auf mich. Über ihrer kranken Schwester hatte ich sie fast aus den Augen verloren. Hanni war dick geworden. Aufgeblüht nannte man das im Dorf, als sei die Heirat für eine Frau eine Art natürliches Düngemittel, wie Mist fürs Gemüse. Doch ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar kringelte sich noch immer widerspenstig um das gerundete Gesicht,und ihre Stupsnase suchte wie eh und je Himmel und Erde nach Abenteuern ab. Sie ergriff meine Hand und drückte sie lange und fest mit beiden Händen, als sei ich von einer weiten, gefährlichen Reise zurückgekehrt.
    Hilla, sagte sie ohne alle Umschweife, wenn dir der Italiener jefallen hat, war dat doch in Ordnung. Wo Liebe is, is keine Sünde. Auch wenn du noch wat jung dafür bist.
    Aber Hanni, sagte ich, es war ja ganz anders. Es ist doch nichts gewesen. Oder doch nicht, was du denkst.
    Hilla, fiel mir Hanni ins Wort, mir brauchst de doch nix vorzumachen. Bürsten, nä. Dat is kein schönes Wort. Aber et macht doch Spaß. Sie knuffte mich vertraulich in die Rippen, hakte mich unter und zog mich fort. Mir kanns de doch alles verzälle. Isch halt discht. Weißt du noch, die Zijeunerin?
    Daß Hanni mir, wie anscheinend alle anderen auch, >et< und >dat< zutrauten, bestürzte mich, schmeichelte aber auch. Hanni bedrängte mich mit Fragen und übernahm das Antworten gleich mit. Sie benutzte meinen Namen und erzählte doch nur von sich, erzählte die Geschichte einer verbotenen Leidenschaft, von heimlichen Treffen voller Liebkosungen. Ihre Sehnsucht, ihre Erfahrungen? Ich kam aus meinem verlegenen Kichern gar nicht mehr heraus und schrie lauter als nötig, als Hanni ein paarmal erregt meinen Oberarm preßte. Am Schinderturm trennten sich unsere Wege. Auf misch kanns de disch verlassen, sagte Hanni. Isch sach kein Wort weiter. Is doch jut, dat de dir mal alles von der Seele jeredet has.
    Zu Hause verkroch ich mich mit Schiller hinterm Hühnerstall. >Je mehr du fühlst ein Mensch zu sein, desto ähnlicher bist du den Göttern.< >Von der Menschheit - du kannst von ihr nie groß genug denken; wie du im Busen sie trägst, prägst du in Taten sie aus.< Das war der Mensch, so war die Menschheit. Ich ertränkte Hanni und die Mutter, Peter und Sigismund in einem Ozean hehrer Menschenliebe: >Wenn jeder Mensch alle Menschen liebte, so besäße jeder einzelne die Welt.< Den nächsten Besuch beim Buchhändler würde ich zu einer umfassenden Information über >et< und >dat< nutzen.
    Erst Tage später, auf dem Weg in die Wiesen am Rhein, das Großvaterbuch im Matchbeutel, begann ich Peter zu vermissen. Ohne ihn konnte ich nur die Blumen in dem Buch wiederfinden, die ich schon kannte. Ich vertiefte mich in einen Wiesensalbei. Die Grillen krakeelten, das Gras bog sich weich, fast seidig, die Blätter der Pappeln spielten grün-weiß. Die Sonne blendete rot. Blühend, atmend standen die Pflanzen da, protzten mit Leben. Ich verstand sie nicht mehr. Peter war der Dolmetscher gewesen zwischen dem Buch und den Pflanzen. Die Pflanzen sprachen nur von sich. Wie fremd sie aussahen ohne

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