Das verborgene Wort
Namen, ohne Herkunft, ohne Geschichte. Aber ich kannte die Möglichkeit, sie in meiner Sprache zum Reden zu bringen. Im Herbarium konnte ich sie mir unterwerfen, jede einzelne. Schon wenn ich eine einzige auswählte, sie aus der Mitte der anderen trennte, fühlte ich mich allen überlegen.
Nahm ich eine einzelne von ihnen in die Hand, entfernte ich sie aus ihrer Welt und entführte sie in meine. Ein gewaltsamer Akt, der sich fortsetzte und steigerte, wenn ich der Pflanze zwischen den Blättern des Heiligenbuches den letzten Saft auspreßte. Wenn der Wiesensalbei sein blaues Leben auf den Brüsten der heiligen Clementia aushauchte. Wenn die Akelei den Rumpf des Laurentius auf dem Rost in mattes Rosa tauchte, Klatschmohn den Schoß der heiligen Ursula mit Karmesin überzog.
Ich beschloß, eine dritte Jahresarbeit zu verfassen: >Sommer- pflanzen in Dondorf am Rhein<. Die Großmutter freute sich über mein wiedererwachtes Interesse an ihrem Heiligenbuch. Die Mutter, daß sie mich unter Kontrolle hatte. Dem Bruder, der als einziger um den Verwendungszweck des Heiligenbuchs wußte, gefielen die gepreßten Blumen so gut, daß er mich häufig auf der Pirsch begleitete. Er entwickelte selbst ein genaues Auge und schleppte unermüdlich sonderbare Gewächse herbei, die wir im nachhinein anhand des Großvaterbuches zu erkunden suchten. Während ich den Weg vom Bild zur Pflanze bevorzugte, brannte er darauf, eine Pflanze zu finden, die im Buch nicht aufzutreiben wäre.
Gewissenhaft vermerkten wir die Fundorte in einem Vokabelheft: >Ackerlöwenmaul. Hinterm Kristoffer Kreuz. Zwischen Rotkohl und Blumenkohl auf dem Weg zum Notstein.< >Ka- mille. Boden sandig trocken. Auf Hings Wiese beim Ziegenstall.<
Ob es sich um echte oder falsche Kamille handelte, hatten wir noch vom Großvater gelernt. War das gelbe Polster, das die weißen Zungenblüten umkrallte, gefüllt, war sie unecht. Echt, wenn es hohl war.
Bald ging es mir nur noch um eines: Namen geben. Woher sollten wir wissen, daß diese hohe, zarte, berauschend duftende, vielkleinblütige Doldenpflanze >Baldrian< hieß und nicht, wie sie aussah und roch, >Duftbräutchen< nämlich. >Leiterblume< tauften wir eine Pflanze nach den rechts und links vom Stengel abstehenden Fiederblättern, die wie Stufen zu den himmelblauen Blütenbüscheln führten. >Himmelsleiter< lasen wir im Buch. Wir sammelten den >Beinwell<, die >Bürgermeisterblume< des Großvaters, ich setzte seinen Namen an die erste Stelle.
Wir griffen zu, wo wir gingen und standen. Den >Wegerich< nannten wir >Rattenschwanz<, das >Fünffingerkraut< Handschlags die >Taubenkopfsilene< >Polsterbauch<.
Und einmal fanden wir weit draußen, noch über den Notstein hinaus, fast schon in der Pleener Kurve, Zittergras.
Zittergras hatten wir schon einmal gefunden, vor langen Jahren, als der Bruder und ich noch im Selbstgestrickten sonntags an den Händen der Eltern auf stundenlangen Spaziergängen mitgehalten hatten. Dä, hatte der Vater gesagt und die Stengel der Mutter in die Hand gedrückt. Die unscheinbaren Halme hatten bei der Mutter ein Entzücken ausgelöst, so stark und unverhofft, daß ich mich zwischen ihre Beine geflüchtet hatte. Gejuchzt hatte die Mutter, wie ich es nur von Kindern kannte, blutüber- gossen hatte sie dagestanden, und als sie mich aus ihrem geblümten Baumwollrock wieder hervorgezogen hatte, war sie ihrer jüngeren Schwester, die mir bei gelegentlichen Besuchen schön und vornehm schien, sehr ähnlich, sogar noch schöner gewesen. Die Mutter hatte gestrahlt. Auch der Bruder erinnerte sich.
Sorgfältig wählten wir einige Halme aus und gingen gleich nach Hause. Würde es uns gelingen, die Mutter zum Strahlen zu bringen wie damals? Nie war das Zittergras in einer Vase aufgetaucht. Was hatte die Mutter mit dem Zittergras gemacht? Im ganzen Haus gab es keinen Ort, der ihr allein gehörte, mit Ausnahme der Schublade des Nachtkästchens. Aber dort lagen nur ein ausrangiertes Gebetbuch, ein Rosenkranzbüchschen und
Wattestöpsel, mit denen sie dem Schnarchen des Vaters zu entkommen suchte; ein Vierfarbdruck von der heiligen Familie mit einem Gebet der Mutter für ihre Kinder.
Da, sagte ich und hielt der Mutter das Sträußchen entgegen.
För mesch? Sie nahm es mir ab und zog den Bruder an sich. Du leeve Jong! So wat Schönes!
Dat Hilla hat die jefunden, sagte Bertram. Mäht nix, sagte die Mutter und legte den anderen Arm auch um mich. Ich war jetzt fast so groß wie sie und spürte ihre Brust an
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