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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Hautsack bei jeder Bewegung trübselig zitterten.
    Wenige Zeilen weiter wurde >es< endlich eindeutig. Zuerst kam der Mann an die Reihe. >Das männliche Glied oder die Rute (Penis, Membrum, Birele) ist ein walzenförmiger, aus drei sehr gefäßreichen Schwamm- oder Schwellkörpern zusammengesetzter und dadurch anschwellbarer Körper, der vorn am Becken zwischen den Schenkeln angeheftet ist, von der männlichen Harnröhre (Urethra virilis) durchbohrt wird und an seinem vorderen nervenreichen Ende, der Eichel (Penis), welche die Harnröhrenmündung enthält, von der leicht verschiebbaren Vorhaut (Präputium) mehr oder weniger bedeckt ist. Über die physiologischen Funktionen des männlichen Gliedes siehe Erektion.<
    Und ob ich das tat. Das war der richtige Weg. Zwar konnte ich mir unter einem >gefäßreichen Schwamm- und Schwellkörper, der von der Harnröhre durchbohrt wird<, nichts vorstellen. Auch daß er >zwischen den Schenkeln angeheftet< war, ließ vieles im unklaren. Nur >Eicheln< kannte ich. Auf dem Hof des falschen Großvaters wurden sie im Winter unters Schweinefutter gemischt.
    Zwischen >Elektrodynamik und Forum< fand ich die >Erek- tion< und erfuhr, daß diese durch wollüstige Gedanken oder durch mechanische Berührung der >Genitalien< zustande komme, und zwar bei den männlichen und weiblichen >Geschlechtsorganen<. Das stimmte. Doris' >Eichel< war in der Tat etwas angeschwollen, prall und faltenlos geworden. Von einer >strotzenden Blutfülle<, einer beträchtlichen Vergrößerung< und einem »hohen Grad von Härte und Starrheit< aber hatte ich nichts verspürt.
    Und Jo Kackaller? Was hatte ich damals gesehen? Ein purpurfarbenes Würstchen, blut- und kotverschmiert. Nichts für ein Lexikon. Nichts für mich.
    Zurück zu den >Geschlechtsorganen<. Weiblich. Daß ich Eierstöcke und eine Gebärmutter hatte, wußte ich seit meiner ersten Regel. Was ich zwischen den Schenkeln hatte, hieß >Untenrum<.
    >Die Mutterscheide oder Scheide (Vagina) verläuft als häutiger, plattgedrückter Kanal in der Mitte des kleinen Beckens zwischen Blase und Mastdarm vom Gebärmutterhals nach abwärts, um an der unteren Beckenöffnung zwischen den Schenkeln in die weibliche Scham (Vulva, siehe Cunus) zu münden, die aus den beiden großen und kleinen Schamlippen nebst dem Kitzler oder Klitoris besteht und nach oben an den weiblichen Schamberg grenzt.<
    >Scheide<, >Schamlippen<, >Kitzler<, schön waren die Worte nicht, aber brauchbar und mitnichten so verheerend wie die der Frauen bei Maternus. >Klitoris< gefiel mir gut. Es kam stolz und mit daktylischem Wohlklang daher, Fülle des Wohllauts, Wiesengrund, Morgenrot, Abendlicht. Eine griechische Göttin, sieghaft und sicher. Doris Klitoris, kicherte ich.
    Fröhliche Erregung ergriff mich. Der Weg in die Welt der Erwachsenen stand offen. Ich hatte die Wörter, den Schlüssel, das Mittel gegen die Angst. Wie aber gingen männliche und weibliche Geschlechtsorgane nun miteinander um?
    Aufschluß darüber erwartete ich von der >Zeugung<. Sie stand unter >Zeugoffizier<. Das Lexikon ließ mich im Stich. Obwohl es sich vier Spalten lang damit beschäftigte, erfuhr ich nicht mehr als im Biologieunterricht: daß ein >männlicher Same ein weibliches Ei befruchtet (s. d.), worauf der Keim, das befruchtete Ei, die Fähigkeit erhält, sich zu einem neuen Individuum zu ent-wickeln<. Ich versuchte mein Glück bei der >Befruchtung<, wo ich in >Richtungskörperchen<, >Polzellen<, >Befruchtungskern<, Keimbläschens >Dottersubstanz< endgültig unterging.
    Ich mußte mich begnügen. Mehr gaben diese Bücher nicht preis. Doch ich brauchte nicht nur die Substantive, Wörter für die Dinge. Wie hieß das Verb, das Tu-, das Tätigkeitswort, wenn man sich nicht der Sprache der Frauen bei Maternus überantworten wollte? Ich kannte zwei Wörter für >es<. Zum ersten Mal hatte ich >es< gelesen. Die Buchstaben, mennigerote Druckbuchstaben, hatten mich von der Rückwand einer Scheune angesprungen, die in friedvoller Redlichkeit zwischen Feldern und Rheinwiesen stand. Daß es kein gewöhnliches Wort war, hatte ich bei seinem bloßen Anblick gespürt. Meine Augen waren zurückgezuckt wie vor einer möglichen Verletzung, und doch hatte ich mich immer wieder umdrehen, meinen Blick in lustvollem Schrecken von den ruhigen Wogen des Getreides den sechs Buchstaben auf der Scheunenwand zuwenden müssen. Kurz darauf hörte ich das Wort in der Fabrik und begriff. Wochen später riefen es mir in den Anlagen ein paar Jungen

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