Das verborgene Wort
paar Wochen hinter dem Glas des Bücherschranks bei der alten Frau Bürgermeister gesehen. Gebundene schwere Bücher. Nimm dir eines, Hildegard, hatte Frau Vischer gesagt, such dir eins aus. Ich stand und las. Aber die Bücher begannen zu atmen, eine einzige große Bewegung; ein pulsierendes, vielrückiges Wesen atmete feuchte Wärme. Ein Geruch stieg mir entgegen wie aus alten Truhen, deren Inhalte man nicht mehr zu berühren wagt, vermischt mit den Ausdünstungen der mürben Lederrücken, Modergeruch wie aus den Sägespänen einer Manege. Ich rührte ein jedes der Bücher an. Liebkoste ein jedes Gesicht. Fühlte ihren Puls in meinen Fingerspitzen schlagen. Ich umfing sie alle und entfernte keines. Die Gemeinschaft der Bücher war mächtiger. Mächtiger als die Aufforderung der Frau Bürgermeister. Mächtiger als meine Begierde.
Als ich den Glaskäfig wieder schloß, tat sich der Spiegel wieder zusammen und warf das Leben des Zimmers zurück wie die dunkle Haut eines ruhig schimmernden Flusses.
Jetzt glaubte ich, sie wiederzuerkennen, diese Bücher, aus dem Fluß gestiegen auf Friedels Kaffeetisch. Es war eine prächtige Reihe, die mir ihre braunen Rücken zukehrte, über und über mit goldgeprägten Ornamenten versehen, die mit Quer- und Längs-linien von der Schrift getrennt waren, von der Schrift: >Brock- haus Konversationslexikon. Band 1 bis 17. Gedruckt bei F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien. 1893-< Siebzehn war ein >Supplementband<. Ergänzung heiße das, sagte Friedel.
Ich las wie im Taumel. >A bis Astrabad< - >Astrachan bis Bilk< - >Bill bis Catulus< - >Caub bis Deutsche Kunst< - Turkestan bis Zz<. Las laut, eine Magierin, die die Welt aufruft, beschwört, sich zu Diensten macht, unterwirft. Ich legte die Linke auf die Brust, sah Friedel fragend an, Friedel nickte, ihr Gesicht ein Widerschein meines Glücks, meiner Begeisterung, meines Außermir- seins.
Greif zu, sagte sie, goß mir Kaffee ein und schob mir ein Stück Kirschstreusel zu. Ich schlug den ersten Band auf und sah Friedel an. Die nickte wieder, wehmütig und mit einem Anflug von Spott.
A begann mit A. Wieder schwindelte mir. Weiß nicht jeder, was ein A ist? Der erste Buchstabe des Alphabets und ein Vokal, genügte das nicht? >A, der erste Buchstabe des Alphabets<, stand da, »läßt sich vielleicht bis zur hieratischen Schrift der Ägypter, sicher bis zum Phönizischen zurückverfolgen.< Was war >hieratisch<, was >phönizisch Triumph und Jubel. Ich würde jedes Wort in aller Ruhe nachschlagen können. >Die älteste Form auf Inschriften erinnert an einen Ochsenkopf, wurde von den Semiten daher Alef, Ochs genannt, woraus griechisch Alpha wurde, erste Schrift. Bei allen Völkern, die den Buchstaben einen Zahlenwert beilegen, ist A gleich 1. Als Laut gehört A zu den Vokalen. (S. d. und Laut.)<
Es war so wie bei Monat. Solange man die Geschichte aus dem Spiel ließ, war alles einfach. Geschichte machte alles Einfache vielfach, alles Eindeutige vieldeutig.
Hilla, Friedel legte ihre von blauen, aufgeworfenen Adersträngen durchzogene Hand auf die Buchseite, und der Blick ihrer grauen Aniana-Augen senkte sich in meine: Hilla, die Bücher gehören dir. Und du hast alle Zeit deines Lebens. Den Kuchen habe ich selbst gebacken.
Ich mußte fünfmal hin- und herlaufen, und zuletzt half mir der Bruder tragen, bis ich alle Bücher im Holzschuppen untergebracht hatte. Wissen können, was man will, wann immer manwill, soviel man will, auf jede Frage eine Antwort finden. Was konnte mir noch Böses geschehen. Es fehlte der fünfzehnte Band. Die Welt zwischen >Sokus und Turkistan< würde sich weiterhin in ihre Geheimnisse hüllen.
Im blakenden Licht der Petroleumlampe, die eines Tages wie von Zauberhand auf dem Tisch gestanden hatte - der Vater habe sie aus dem Sperrmüll des Prinzipals mitgebracht -, saßen mein Bruder und ich an diesem Abend noch lange und schwelgten in den Abbildungen fremder Völker und Kulturen, der Ägypter und Afrikaner, der Amerikaner und Asiaten. Wir entdeckten die Vielfalt der Algen, der Ameisen, der Adler, der Antilopen, der Arazeen, durchzogen auf vielfarbigen Tafeln die Alpen, erforschten ein Meerwasseraquarium. Und dat hat se dir wirklich geschenkt? fragte der Bruder ein ums andere Mal, mißtrauisch, als könnte sich der Schatz vor unseren begierigen Augen in eine faule Knolle, eine schrumplige Wurzel auflösen wie die Gaben, mit denen böse Zwerge vertrauensselige Kinder in ihre Gewalt bringen. Das, sagte ich, das,
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