Das verborgene Wort
erwartete ständig etwas, und es bangte mir davor zugleich.
So schob ich den Besuch beim Buchhändler immer wieder auf. Ich hatte Angst vor den Wörtern, den eindeutigen Wörtern, die Empfindungen zu Fakten machen, die Angst fortnahmen, aber auch diese sehnsuchtsvolle Unbestimmtheit, den Schwebezustand, den Schleier des Traums. Mit der Benennung geht die Entzauberung einher, mit der Klarheit verliert sich die Magie. Ich hatte Angst vor den Wörtern, wie sie die Frauen bei Maternus gebrauchten, wenn sie montags vom Wochenende erzählten. Wörter, die etwas meinten, was in den Büchern Liebe hieß, Hingabe höchstens, allenfalls Verschmelzung. Sie taten >es< ja alle, und sie taten alle dasselbe. Ich wollte >es< auch tun, aber mit schönen Wörtern. Gäbe es diese schönen Wörter, stünden sie doch in den Büchern, ich hätte sie längst gefunden. Es gab sie nicht, diese schönen Wörter für >es<, fürchtete ich. Alle Welt war hinter dieser Sache her. Kaum ein Buch kam ohne sie aus. Immer, ohne die Sache zur Sprache zu bringen.
Zweimal fuhr ich nach Großenfeld. Jedesmal war die Buchhandlung ohne Kundschaft und Herr Sebastian Maier mit all sei-ner beflissenen Liebenswürdigkeit mir allein zugewandt. Beim ersten Versuch schrieb ich sieben Heftseiten über >Geranien< voll, hoffend, meine Hartnäckigkeit würde den freundlichen Mann endlich vertreiben, damit ich einen Blick auf >Geschlechtsorgan< werfen könnte. Es sollte nicht sein. Beim zweitenmal hielt ich mich bei >Zeus< auf, von dort war der Sprung zur >Zeugung< nicht weit. Doch diesmal nahm sich Herr Maier sogar die Zeit, mir Wort für Wort zu diktieren. Zeus, und er blitzte mich durch die goldumrandeten Gläser an, Zeus sei schließlich für die Griechen das, was der liebe Gott heute für uns sei. Weitere Besuche an gewöhnlichen Wochentagen waren sinnlos. Samstags vormittags aber, wenn der Laden voll war, saß ich in der Schule.
Ich war auf dem Weg vom Tischtennis nach Hause, als Friedel mir entgegenradelte. Kurz bevor sie mich fast angefahren hätte, trat sie in den Rücktritt, sprang ab, griff meinen Ellenbogen und beugte sich über ihr Lenkrad so weit zu mir herüber, daß ihr krauses Haar mich kitzelte. Hilla, sagte sie, bitte komm morgen nachmittag zu mir. Ich habe etwas für dich. Schwang sich auf und holperte den Fußweg an den Gleisen entlang. Ich hatte auch etwas für sie.
Aus einem der dunkelgrünen Lederbände war ein Foto herausgefallen. Eine Frau in einem Park, die Hand in den Strahl einer Fontäne gestreckt. Die Frau trug ein Kleid, das im Gegenlicht ihre schlanke Gestalt mehr entblößte als verhüllte, ein gewebter Hauch, von einem Gürtel gehalten, in dem Blumen steckten. Ihr Gesicht war dem Betrachter zugewandt, obwohl die Hand in den Wasserstrahl griff, eine anmutige Drehung. Verträumt und verloren schaute sie durch den Betrachter hindurch in eine Zeit jenseits des Augenblicks, da der Fotograf den Auslöser gedrückt hatte. Sie war jung und von jener vornehmen Schönheit der Frauen in den dunkelgrünen Büchern, die eher aus ihrer sicheren Stellung im Leben herrührt denn aus körperlichen Vorzügen. Allein das Haar widersprach der wohlerzogenen Gelassenheit, ordnete sich Spangen und Haarbändern nur trotzig unter und flirrte um das ergeben lächelnde Gesicht in nicht zu bändigendem Protest. Die Frau war Friedel. Daher hatte sie von diesen Büchern mit einer solchen Herablassung gesprochen. Um ihr jetziges Leben an der Seite eines Sparkassenangestellten nichtherabsetzen zu müssen, verachtete sie das alte. Friedel wohnte mit Mann und Sohn in einer Mansardenwohnung, unterm Dach, wie die Mutter verächtlich sagte. Mit sicherem Instinkt für alles, was schwächer war als sie selbst, schaute sie auf Friedel herab. Von unten konnte man aufsteigen. Friedel war gesunken. Für sie riefen die Bücher Verlorenes wach, für mich Verheißungen. Ich würde ihr das Foto nicht mitbringen.
Anders als die Villa ihrer Mutter, die von alten Möbeln, Bildern, Statuen, Vasen, Teppichen, Zierat aller Art überquoll, war das Wohnzimmer Friedels mit modernen, hellen Möbeln sparsam, beinah karg ausgestattet. An den Wänden hingen Drucke, ich erkannte Picasso und Feininger. Keine Blumen, weder in Vasen noch in Töpfen. Einzig ein alter Bücherschrank aus Mahagoni, das Gegenstück zu dem ihrer Mutter, erinnerte an vergangene Zeiten. Der Kaffeetisch war für zwei Personen gedeckt. Mit Tassen, Tellern und Kuchen. Und mit Büchern. Ich hatte diese Bücher vor ein
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