Das verborgene Wort
ja, einfach so. Ich warf die Großvaterdecke über die Bände, und wir gingen ins Haus.
Wo häs de die dann her? fuhr mich die Mutter am nächsten Abend an. Daß Friedel selbst Kuchen gebacken hatte, tauchte das Geschenk in ein noch unwirklicheres Licht. Friedel und Backen. Das war für die Mutter viel wunderlicher, als sechzehn Lexikonbände zu verschenken. Jitz mäht et dä Jong och noch verröck met de Bööscher, schimpfte sie, Bärtram, jank spille! Schimpfend und voller Argwohn und Angst, der Sohn könne ihr so fremd werden wie die Tochter, zog sie die Tür hinter sich zu.
Zum Tischtennisspielen hatte ich in den nächsten Tagen keine Zeit. Ich wollte >es< endlich wissen.
Es war an einem der blau-grün-goldenen Tage im Oktober. An einem Tag wie diesem war Ferdi begraben worden. Warum mußte ich ausgerechnet jetzt an Ferdi denken, jetzt, wo ich Band sieben aufschlug, >Foskari bis Gilboa<, und ein kräftiger Sonnenstrahl durch die Luke des Holzschuppens auf >Geschlecht< fiel, >Geschlecht< gleich unter >Geschlagenes Feingold siehe Blattgolds
Wie damals, als Doris meine Hand auf ihrem Körper entlang-geführt hatte, klopfte mein Herz, als ich das Wort gedruckt sah, >Geschlecht<, in zweispaltiger Verheißung. >Genus<, begann der Artikel. Wie in der Grammatik. Das Geschlecht der Wörter hatte ich vor den anderen kennengelernt. Was verbarg sich hinter weiblich und männlich in der Wirklichkeit?
>Geschlecht, Genus, ist im weiteren Sinne gleichbedeutend mit dem systematischen Begriff der Gattung (s. d.), im engeren aber bezeichnet man durch das männliche und weibliche G. Sexus masculinus und Sexus femininus, zwei verschiedene, immer im Bau der Geschlechtsdrüsen, häufig aber auch und in sehr bedeutendem Grade in der äußeren Gestalt, Stimme usw. voneinander abweichende Formen (geschlechtlicher Dimorphismus), in welchen bei den meisten Tieren und zahlreichen Pflanzen behufs einer eigenthümlichen, auf die Fortpflanzung sich beziehenden Arbeitsteilung die Individuen der einzelnen Tier- und Pflanzengattungen vorkommen. Durch die Verschiedenheit der G. wird die geschlechtliche Zeugung (s. d.) der neuen organischen Wesen vermittelt, welche mit denen, von welchen sie gezeugt wurden, von gleicher Art sind. Nur bei auf niederer Stufe stehenden Organismen bis zu den Insekten herauf, aber nie bei Wirbelthieren finden andere Fortpflanzungsweisen statt, die theils neben der geschlechtlichen Zeugung hergehen, theils mit derselben in Wechselbeziehung stehen. (Siehe Ammenzeugung, Generationswechsel, Parthenogenesis.)<
Mein Herz klopfte noch immer. Vor Wut. Das hier war schlimmer als Algebra. Wörter bildeten Schlingen, Verkettungen, Labyrinthe, und ich tappte wie eine Blinde hinterher. Ich fühlte mich gefoppt. Weiterlesend erfuhr ich, daß >der Grundcharakter der verschiedenen G. sich durchgehend derart bemerkbar macht, daß das männliche sich als zeugendes, schaffendes, das weibliche als empfangendes, fortbildendes bewährt. Dieser Unterschied erstreckt sich auch auf die geistigen Unvollkommenheiten, auf die Fehler des Charakters, die Leidenschaften und die wirklichen Geisteskrankheiten. Der Mann ist mehr dem Zorn, der Wuth und der Raserei, das Weib mehr der List, der Eifersucht und Melancholie unterworfene Ich dachte an die Tante, wie sie den Onkel heruntermachen konnte, die Großmutter, wenn sie die Herdringe durcheinanderwarf.
Dann endlich schien das Buch zur Sache zu kommen. >Die Organe, welche den Hauptunterschied der G. begründen, nennt man Geschlechtsteile oder Genitalien (s. Geschlechtsorgane).< Das tat ich. Ich überschlug den restlichen Teil dieses Artikels, wo noch viel von Staubgefäßen, Pollen, Stempeln, von geschlechtlicher Arbeitsteilung bei männlichen und weiblichen Tieren die Rede war, und las: >Geschlechtsorgane, auch Geschlechtsteile, Genitalien, Sexual- oder Zeugungsorgane (Organa Sexualis s. Genitalia).<
Gleich würde ich die Wörter lesen, Wörter, die, wenn schon nicht schön, so doch richtig waren. Erst aber mußte ich durch die Tierwelt, durch diverse Formen von >Zeugungsstoffen<, von >Samen<, >Eizellen< und >Leibeswand<, >Keimdrüsen<, >Eierstöcken< und >Hoden<. Dieses letzte Wort brachte mein Herz ins Stolpern, es hing eng mit dem Geheimnis zusammen. Vorstellen konnte ich mir nichts darunter, bis ich auf >Hodensack< stieß und mir der schaukelnde Zwillingsball zwischen den Beinen von Paul, dem alten Gaul auf dem Hof des falschen Großvaters, einfiel. Kugeln, die in einem schlabbrigen
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