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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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ihrem Luxusleben an der Riviera langweilt, hatte ich schon damals nichts anfangen können. Ich war wütend geworden auf die verwöhnte Pute, die sich in Traurigkeit suhlt, Trauer über nichts und wieder nichts, sie hatte alles und mehr, Dinge, von denen ich noch nicht einmal träumte, da ich gar nicht wußte, daß es sie gab. Das sollten Menschen in >Realien< sein? Unzufriedene, faule Leute, die nichts anderes im Kopf hatten, als ihre leeren Köpfe zu füllen? Fest stand: Dieser Existentialismus hier hatte nichts mit Realien zu tun. Was immer die beiden im Bus mit ihrer Frage gemeint haben mochten, der Sachlichkeit verdächtigt hatten sie mich nicht. Mein Überdruß, meine Hoffnungslosigkeit, meine Verzweiflung hatten andere Gründe als die der >Hörzu<-Existentialisten, und doch fühlte ich mich ihnen auf eine unbestimmte Weise verwandt, fühlte mich in meinen Trauerkleidern, meinen Protestkleidern, nicht mehr allein. Und einen Satz hatte ich in dem Artikel gefunden, den ich gleich in mein Heft für Schöne Sätze eintrug; er war von einem Franzosen, Jean Paul Sartre: >Ich bin meine Freiheit.< Ein Satz, als stieße man ein Fenster auf, frische Luft, das Sausen der Pappeln am Rhein und das Meer, das ich nicht kannte, Hauke Haiens Meer. Ich würde mir die Haare abschneiden lassen. Wie Jean Seeberg. Streichholzkurz.
    Zu Hause winkte mich die Mutter geheimnisvoll beiseite. Ein Brief von Sigismund war gekommen. Aus Freudenstadt. Hier, in der guten Luft des Schwarzwaldes, solle er seine Lungen auskurieren und kräftigen, schrieb er. Er sei froh, von zu Hause fort zu sein. Froh, mir schreiben zu können, Post von mir zu kriegen. Ob ich mir die Gedichte von Benn schon gekauft hätte? Was ich gerade lese? Er schicke mir eine Postkarte. Wie mir das Bild gefiele? Ob ich wisse, daß >Stilleben< auf französisch >nature morte< heiße, tote Natur? Dein Sigismund.
    Das Gemälde auf der Postkarte zeigte einen Mann bis zu den Knien, schwarz verbeulte Hose, faltiges Sakko, auf einem Knopf geschlossen, schmutzig gelbes Hemd mit noch schmutzigerer Krawatte, langer, dünner Kopf, abstehende Ohren, die Linke wie zum Schwur auf die Brust gelegt, die Rechte mit einem Pinsel bis auf den Fußboden herabhängend, wo ein Kanonenöfchen stand, dessen Rohr sich über das Fenster im Hintergrund bis zur Decke zog. Der Mann sah ausgezehrt aus, seine Mundwinkel wiesen in Richtung der Füße. Das Zimmer wirkte elend, verloren, leer. Ob Sigismund auch ein Existentialist war? Das Bild hieß »Selbstbildnis«, der Maler Bernard Buffet. Von ihm war auch in der >Hör zu< die Rede gewesen, leider in dem Teil, der offenbar zum Feueranzünden gedient hatte. Nur sein Name unter einer Abbildung, von der man gerade noch ein Paar Männerschuhe erkennen konnte, war lesbar gewesen.
    An diesem Abend stenographierte ich nicht. Ich stellte mir einen Sigismund vor in schwarzen Röhrenhosen und Rollkragenpullover, vornübergebeugt und mager wie mein Schiller, und schrieb einen langen, trostlosen Brief nach Freudenstadt, ein endloses Lamento über die Leere, das Nichts, die Vergeblichkeit menschlichen Strebens. Nur von mir schrieb ich nichts. Sigismund war zu weit weg. Weiter als Freudenstadt. Weiter als vor einem Jahr in Spanien. Zu weit.
    Frau Wachtel wartete schon. Ich stellte ihr den Kaffee auf die Gummiunterlage. Setzte mich auf meinen Platz ihr gegenüber. Unter meinem Fuß klumpte >Ich bin meine Freiheit«. Nun, drängte Frau Wachtel.
    Nichts, sagte ich.
    Wie nichts?
    Ein bißchen gelesen und dann ins Bett gegangen.
    Wie? Sie klopfte mit dem Kaffeelöffel ein paarmal an die Tasse. Wie? Gelesen und ins Bett gegangen...
    Ja, wie immer. Sonst nichts.
    Was gelesen?
    Vergessen.
    Du! Du! Ich will wissen, was du gestern abend getan hast. Mach den Mund auf!
    Der Zettel unter meinem Fuß fühlte sich naß an, faserig. >Ich bin meine Freiheit« der Auflösung nahe. Ich schwieg.
    Wir redeten an diesem Tag kein Wort mehr miteinander. Und nicht am nächsten. Ich tat, was sie mir zuwies. Schweigend.
    Am dritten Tag, ich hatte ihr gerade den Kaffee hingestellt, sagte sie zu mir: Steh auf. Das tat ich. Stand auf meiner Freiheit im Schuh und schwitzte.
    Komm her.
    Ich ging die paar Schritte um meinen Schreibtisch herum, blieb vor ihrem stehen.
    Näher. Sie blies mir Rauch ins Gesicht. Ich machte einen Schritt rückwärts.
    Und jetzt hörst du mir einmal gut zu. Das Fräulein Palm ist faul. Das Fräulein Palm ist aufsässig. Das Fräulein Palm taugt nichts. Das Fräulein Palm hat

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