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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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deit joot, sagte er und sah Trudi herausfordernd an. Die verstand und erhob sich.
    Bräng mer ent met, sagte der Vater. Er leerte die Flasche auf die gleiche Weise wie der Schwiegersohn in spe. Dieser kam allmählich aus seiner Betäubung wieder zu sich und begann, nach einem Rülpser, herzhafter als alle zuvor, lauthals über einen Polier zu schimpfen, den er als Saukääl, Dreckskääl, Drecksau titulierte.
    Worauf Trudis Mutter mit einem Seitenblick auf ihren Mann meinte, so seien aber nicht alle Poliere, und Trudi zur Besänftigung weitere Flaschen verteilte. Walter schaute auf die Uhr, rüttelte den Arm und fragte aufgeregt, ob es denn wirklich erst halb drei sei. Es war bereits halb fünf. Er sprang auf, nickte mir zu. Herrn Kluthes Hand fühlte sich wie die des Vaters, die Hand von Trudis Mutter wie die meiner Mutter an. Im Hinausgehen sah ich Heinz über Trudi hängen, die sich glucksend sträubte. Mansche, sagte sie, als wir uns das nächste Mal sahen, broche eben ihr Biersche, eh se us sesch eruss kumme.
    An der frischen Luft, der Nebelmorgen hatte sich strahlend aufgeklärt, verwandelten sich Himmelblau und Sonnengelb vor meinen von perlendem goldenem Geist getränkten Augen in ein Feuerwerk, das über den schwankenden Hölldorfer Häusern explodierte.
    Walter fuhr mich nach Hause, direkt bis ans Gartentor. Ein Fahrrad kam uns entgegen. Sigismund. Ob er mich erkannt hatte, war nicht auszumachen, er sah nicht rechts noch links. Und mein Fahrrad stand noch immer an der Hölldorfer Post! Also stieg ich gar nicht erst ab, fuhr mit Walter wieder nach Hölldorf zurück und noch einmal an Sigismund vorbei. Eng drückte ich mich an Walters Rücken, lieber Gott, mach mich klein, mach mich unsichtbar, zuckte gleich wieder zurück: Wie falsch konnte dieses Anschmiegen gedeutet werden. Kaum nahm ich mir Zeit, mich bei Walter zu bedanken, der sich, ganz das Gegenteil seines Bruders, höflich und umständlich von mir verabschiedete, und raste die Chaussee entlang, durch die Kämpen. Ein paar Mägde und Knechte von Karrenbroichs Hof sammelten Fallobst für Kraut und Saft, die Luft gesättigt vom vergorenen Duft überreifer Äpfel und Birnen.
    Hinterm Damm mußte ich mein Fahrrad schieben, durch die Kiesel, den Sand, zertreten von Kindern und Liebespaaren einen ganzen Sommersonntag lang. Verlassen vom perlenden goldenen Geist suchte ich sie alle ab, die Weiden am Rhein, ein grünes Fahrrad, Beine in beigen Popelinehosen auf und ab, eine blaue
    Windjacke, schwarzes Haar und vorüber, vorbei, eingebrannt in meine Netzhaut, hinter jedem Busch und Strauch. Sigismund war nirgends zu finden. Ich fuhr durch die Straßen des Dorfs, ziellos, planlos, fuhr den Feldweg hinauf in den Weskotter Busch, am Kiesberg vorbei, amHoldschlößchen vorbei; vorbei an Kack- allers Baracke, fühlte den Fahrtwind nicht und nicht die Kühle des Sonnenuntergangs, fuhr über Landstraßen, Feldwege, querfeldein, fuhr, um zu fahren, bloß nicht stehenbleiben, nur in Bewegung bleiben, der Ruf vor dem Todesschuß: stillgestanden. Keine Bewegung. Ich fuhr, wie ich vor Wochen gelesen hatte, als die Bücher sich mir zu verschließen begonnen hatten, als ich mich gegen die Wachtelwelt an die alten, schönen Wörter und Sätze zu klammern versucht hatte, blindlings von Seite zu Seite, von Buch zu Buch, von Dichter zu Dichter geblättert, mich durchgeschlagen hatte und sie sich einer nach dem anderen von mir zurückgezogen, mir ihren Sinn verweigert hatten, so fuhr ich jetzt durch die Landschaft, blind für alles, was mich umgab, in würgender Panik, bis ich zitternd abstieg, das Geschenkpapier zurückstreifte und Zuflucht suchte bei den Tröstungen des grünen Geistes.
    Wo worst de dann dä janze Daach, empfing mich die Mutter. Em Hochamt hät mer desch och nit jesinn. Dä Sijismund war he und hät noh dir jefrooch. Hä soh schläät us. Zwei Stond hät dä op desch am Rhing jewaat. Su ne feine Jong leet mer doch nit wade. Du wes noch ens en ahl Juffer. Wie die vun nevvenan.
    Dem Bruder gab ich einen Zettel mit, in dem ich Sigismund versprach, Montag und Dienstag am Mühnebusch nach der Arbeit auf ihn zu warten. Ich werde ihm alles erklären.
    Ich wartete am Montag. Ich wartete am Dienstag. Ich wartete vergebens. Keine Zettel. Ja, sagte der Bruder, Bedauern und Mißbilligung in der Stimme, Sigismund komme jeden Tag zur Schule, sogar mit dem Fahrrad, schaue aber in eine andere Richtung, wenn er ihn sehe.
    Ich lernte warten. Lernte, was Ohnmacht heißt. Ohne

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