Das verborgene Wort
Wer von den Kleinen hinausgehen will, der kann nach Hause gehen. Der Rektor zog ein Taschentuch hervor, eine Parfümwolke stieg aus seiner Hose zur Stirn, als er sich den Schweiß abtupfte. Dann machte er das Licht aus.
Im langgestreckten Lichtkegel tanzten zu dem Surren der Filmrolle unzählige Stäubchen. >Nacht und Nebels sagte die zitternde Schrift. Panzer rollten durch weit geöffnete Tore an zahllosen Reihen von Baracken entlang, dazu sieghafte, dann gedämpfte Musik, als Bagger und Bulldozer auffuhren. Bulldozer, die zu Skeletten abgemagerte Menschenleiber, Gerippe, zusammenschoben, wobei diese in schlackernden Bewegungen fast zu leben schienen; hier ein Arm, der sich unter den Massen der Glieder hochwarf, als winke er Abschied, hier ein Bein, das sich streckte, als mache es sich auf den Weg; ein Kopf, der ruckte wie in Bejahung, Verneinung. Wie Puppen, wenn man sie nach dem Spielen in den Kasten warf. Ein paar Erstkläßler kicherten. Aberwarum trugen diese Frauen-, Männer- und Kinderköpfe so ein schauerliches Lachen im Gesicht? Oder was war es, das ihnen die Lippen von den Zähnen zerrte, breit auseinander, die Münder aufsperrte wie zu endlosem Hohngelächter? Ein kleiner Junge unter einer viel zu großen Schlägermütze kam mit erhobenen Händen auf mich zu, die Augen weit aufgerissen. Wie er mich ansah, der kleine Junge, als könnte ich ihm helfen, als könnte ich ihm sagen, nimm die Arme herunter, komm, geh mit mir, wir wollen bei Schönenbachs spielen, Erdhäuschen bauen, nur für uns zwei, nicht für so viele. Erdhäuschen, wo uns keiner findet, hinterm Hühnerstall lesen, Grimms Märchen oder das Heiligenbuch. Aber die Körperberge waren zu hoch, der kleine Junge verschwand darin.
Im Religionsunterricht erfuhren wir, was das war: Juden. Sie waren nicht katholisch und nicht evangelisch, aber auch keine Heiden. Ihr Gott war irgendwie mit dem unseren verwandt, eine Art Großvater. Jedenfalls war er älter und strenger. >Auge um Auge<, sagte er, und >Zahn um Zahn<.
Aber warum, fragte ich den Kaplan, der an einem Hautstück riß: Warum haben die sich dann nicht gewehrt? Es waren doch so viele?
Warum, fragte ich den Kaplan, der blitzschnell mit der Zunge den Hautlappen aufnahm und darauf herumkaute: Warum haben die sie verhungern lassen? Die Amis hatten doch genug zu essen. Onkel Schäng war bei den Amerikanern für ein halbes Jahr in Kriegsgefangenschaft gewesen und nannte die Ernährung dort immer tipptopp.
Das waren nicht die Amerikaner, sagte der Kaplan.
Die Russen! platzte ich heraus.
Nää, die Chinesen! Die Näjer! Die Heiden!
Nein Kinder, sagte der Kaplan, das waren wir, die Deutschen.
Schweigen.
Aber, stieß ich hervor, Deutsche sin doch katholisch, die sin anständisch.
Der Handteller des Kaplans glänzte wie rohes Fleisch. Aus der Fuge zwischen Mittel- und Zeigefinger quoll ein Blutstropfen. Deutsche seien es gewesen, sagte der Kaplan, katholische und
evangelische, die den Krieg mit den anderen Völkern angefangen hätten. Sie seien in Länder marschiert, in denen sie nichts verloren hätten. Beispiele, die wir alle verstanden, führte er an. Puppen und Dreiräder, die man nicht wegnehmen, fremde Gärten und Häuser, die man nicht betreten durfte. Das leuchtete uns ein.
Deutsche, fuhr der Kaplan fort und lenkte seinen Blick aus dem Fenster auf eine Kastanie, deren Kerzen in den nächsten Tagen aufbrechen würden. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, nur sein Profil, konnte sehen, wie der dünne junge Mund unter der langen blassen Nase sich auftat und schloß, auftat und schloß, sein weit geöffnetes Auge starr nach draußen gerichtet.
Deutsche, sagte der Kaplan, hätten viele, viele Juden ermordet.
Nää, entfuhr es Kurtchen Küppers und mir fast gleichzeitig.
Ja, sagte der Kaplan und wandte den Kopf noch weiter dem Fenster zu, daß die Klasse ihn jetzt nur noch von hinten sehen konnte: Ja, Hitler hat die Juden umgebracht. Die Nazis.
Gott sei Dank. Nicht die Deutschen, die Nazis waren an allem schuld. Hitler hatte den Krieg angefangen. Hitler war Luzifer in Menschengestalt. Die Nazis alle Teufel. Nur Teufel konnten so etwas tun. Das war's: nur Teufel, keine Deutschen. So, wie Nero die Christen, hatte Hitler die Juden umgebracht. So, wie die Christen hatten sich die Juden nicht gewehrt, weil ihnen der Himmel offenstand. Sie waren, wie die Christen, für ihren Glauben gestorben. Sie hatten es so gewollt. Sie waren Märtyrer, Heilige.
Aber wie anders sahen die Heiligen in
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