Das verborgene Wort
meinem Heiligenbuch aus. Der heilige Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, vierundzwanzig hatte ich gezählt, strahlend schön. Laurentius, enthäutet schmorend, holdselig verklärt. Wie schön sie waren trotz aller körperlichen Versehrtheit. Wie sie der Heiligenschein allem irdischen Jammer enthob, wie er sie schmückte. Wie gern schaute man sie an. Zu ihnen empor. Machte sie zu Fürbittern bei Gott.
Die Bilder der heiligen Juden entsetzten mich. Sie hatten keine Körper, nur Haut und Knochen. Sie hatten keine Gesichter, nur Schädel. Sie hatten keine Namen, nur Nummern. Zu Nummern kann man nicht beten. Ich betete für sie. Wenn Messen und Andachten für die Opfer des Krieges gehalten wurden, hatte ich jetzt sie vor Augen. Und wenn ich die Gliederberge nicht mehr aushalten konnte, betete ich für den kleinen Jungen mit der Schiebermütze. Oder betete ich zu ihm? Er hatte ein Gesicht. Ich gab ihm einen Namen: Abel.
Auch die Mutter sah den Film, lief danach mit roten Augen herum und erzählte die Geschichte vom Häze Lensche, Lenchen Herz, ihrer Freundin seit Kindertagen. Lenchens Mutter, wie die Großmutter, im Frauenverein. Der Vater, Lehrer am Möhlerather Gymnasium, sogar im Kirchenvorstand. Se wore doch katholisch wie mir, empörte sie sich, un doch hät dä Beilschlach se affjeholt.
Daß die Mutter einen von diesen nackten toten Körpern gekannt haben sollte, machte sie unheimlich, ließ sie plötzlich aussehen wie eine von ihnen.
Nu hür ald op, schalt die Tante. Et es doch alles vorbei.
Aber das konnte doch nicht stimmen. Solange die Mutter weinen mußte, wenn sie an Lenchen dachte, war gar nichts vorbei.
Die Zehn Gebote kamen von Gott. Die acht Gebote vom Pastor. Wir lernten sie im Beichtunterricht. >Erstens: Beten, zweitens: Heilige Namen, drittens: Sonn- und Feiertage, viertens: Eltern und Vorgesetzte, fünftens: Hauen und quälen, sechstens: Un- keuschheit treiben, siebtens: Stehlen, achtens: Lügen.< Eine Einkaufsliste für arme Sünder. >Ich habe gelogen< ließ ich nie aus. Für alle Fälle. Zur Anregung gab es den Beichtspiegel, gesondert für Erwachsene und Kinder. Das Sündenangebot war beträchtlich. >Knie ich mich, wenn der Priester mit dem Allerheiligsten kommt? Grüße ich das Kreuz an der Straße? Ziehe ich die Mütze, wenn ich an der Kirche vorbeigehe ?< Hundertzwölf Fragen mußten beantwortet werden, um über die >Gewissenserforschung< zu >Reue< und >Vorsatz< vorrücken zu dürfen. Erkenntnis allein nützte gar nichts. Hin und her wälzte ich den Unterschied zwischen >unkeusch< und >unschamhaft<. Wo hörte die Unschamhaftigkeit, eine läßliche Sünde, auf, wo fing die Unkeuschheit, die Todsünde, an? Bekam eine Frau von einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet war, ein Kind, hatte sie Unkeuschheit getrieben, und das Kind war die Strafe. Eine Schande!
Doch wie konnten Kinder unkeusch sein? War es unkeusch, wenn Fricks Gerdchen und Büchsenmachers Wolfi Mädchen ins Gebüsch lockten, die ihnen aber kreischend entkamen, wenn sie merkten, wozu sie herhalten sollten? Nur Annegret Huber mit dem dicken, großen Kopf, der immer ein wenig Speichel in den Mundwinkeln klebte und mit der sonst niemand spielen wollte, spreizte die Beine und ließ vom Knie an zwei Schnecken an den Innenseiten ihrer Oberschenkel hochkriechen. Auf der einen Seite eine rote Nacktschnecke, auf der anderen eine blaßgraue mit Häuschen, die eine von Gerdchen, die andere von Wolfi, ein Wettrennen. Wer wollte, konnte zusehen. Annegret schien es zu gefallen. Ihre ohnehin verwischten Züge lösten sich noch mehr auf, je näher die Schnecken dem Schlüpfer kamen und sich mit ihren Fühlern, einzeln oder zu zweit, an dessen Rändern entlangtasteten. Wessen Schnecke als erste den Hosengummi überstieg, durfte mit Annegret ins Gebüsch. Wie es dort weiterging, wußte niemand. Zuschauen durften wir nur beim Schneckenspiel. Zur Unkeuschheit gehörten zwei, hatte ich bislang geglaubt. >Hast du Unkeuschheit mit dir selbst getan?< fragte der Beichtspiegel. Wie um Himmels willen sollte das vor sich gehen?
Pastor und Kaplan wechselten sich in unserer Unterweisung ab. Für den Kaplan waren wir alle gewissenlose Sünder, Furcht und Schrecken vor Gottes Strafgericht sollten zu Reue und Vorsatz nötigen. Der Pastor hingegen hätte uns Kindern Gottes das Himmelreich am liebsten schon auf Erden zu Füßen gelegt. Er malte uns Gottes Herzeleid aus, wenn wir die Messe versäumt, das Abendgebet vergessen hatten, und versprach uns herrliche
Weitere Kostenlose Bücher