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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Drücken und Ziehen, Heben, Stemmen und Greifen. Hatte er nichts zu tun, hingen die Arme hilflos am Körper hinab. Kein Mann aus der Verwandtschaft hatte unversehrte Hände; irgendwann war jeder einmal einer Säge, einem Hobel oder Hammer zu nahe gekommen, hatte ein Fingerglied, eine Kuppe oder einen Nagel eingebüßt. Onkel Männ jedoch hatte nur noch einen einzigen Fingernagel, Handballen und Innenflächen beider Hände waren wüst und wulstig zerklüftet, alle Finger der linken und vier der rechten Hand unterschiedlich verkürzt. Nach dem Krieg hatte er sich den linken Daumen so weit abgesägt, daß er die Bretter nicht mehr sicher führen konnte und seine Arbeit an der Kreissäge aufgeben mußte. Jetzt beschäftigte man ihn im Lager.
    Onkel Männ kam, als die Gläschen immer öfter gefüllt, die Kuchenteller immer seltener herumgereicht wurden, >angetahan hat's mir der Wein<, die Gesichter den dösigen Ausdruck von Kühen auf der Weide annahmen, >deiner Äugelein heller Schein< zusehends stumpfer wurde und die Onkel und Tanten, Nachbarn und Schützenbrüder immer häufiger versuchten, sich zurückzulehnen, um dann mit einem entsetzten Ruck für die nächsten Minuten wieder Haltung anzunehmen oder nach vorn auf die
    Tische zu kippen. >Lindenwirtin, du junge<. Schon hatte die Mutter dem Vater und dem falschen Großvater ein Zeichen gegeben und mit dem Kopf eine Bewegung zum Quetschebüggel gemacht. >Du juhunge<. Die Gespräche waren fast völlig verstummt, einige Männer lagen über den Bänken und schnarchten, die Frauen verdauten mit runden Rücken und verschwimmendem Blick.
    So Heldejaad, sagte die Mutter. Der Vater stand auf, griff mit einer Hand nach mir, mit der anderen nach dem Quetschebüggel und führte mich dem Großvater zu. Dat de mer keen Schand mäs, zischte mir die Mutter ins Ohr. Die Frauen stupsten die Männer in die Seite, daß sie mit gewaltigen Schnarchlauten aufschraken, sich umsahen wie erwischte Sünder und Haltung annahmen. Links saßen alle auf ihren linken, rechts auf ihren rechten Pobacken, jeder ausgerichtet zum falschen Großvater und zu mir. Auf den Bänken war es still. Nur die Hähne krähten um die Wette, >deiner Äugelein heller Scheins. Spielte ich zu Hause, konnte ich die Füße auf eine Fußbank stellen. Hier hingen sie ins Leere. Ich klemmte die Unterschenkel unter die Bank, krampfte die Bauchmuskeln zusammen, um die Balance halten zu können, griff einen C-Dur-Akkord, Frohsinn am Rhein. Jetzt endlich mußte heraus, was mir seit Wochen im Kopf herumspukte, einmal aus mir heraus durch diesen Verbund aus Pappe, Leder, Bakelit in den Zug meiner Arme, den Druck meiner Finger, >Lindenwirtin, du junges >Keinen Tropfen im Becher mehr, und der Beuheutel schlaff und leer.< Ich spielte fehlerfrei. Siegesgewiß wiederholte ich den Refrain mit doppelter Armkraft, als die Tante aus Stipprich mir mit ihrem dröhnenden Alt in die Parade und mein sauberes Spiel fuhr, daß ich, >Lindenwirtin, du juhunge<, mitten im Juhungeton, zusammenschrak und dem Quetschebüggel seltsame, fast unanständige Töne entwichen, über denen unbeirrt der Alt der Tante tremolierte.
    Noch ens, sagte der falsche Großvater, un jitz sid ihr all ruhisch. Widerwilliges Schweigen lag über der beduselten Gesellschaft, die wieder munter geworden war und Besseres zu tun hatte, als dem Quetschebüggel von däm Dondörper Blaach zuzuhören. Ich spürte ihre Unruhe, wollte sie von mir und mich von ihnen befreien, machte Tempo, verhaute mich, spielte weiter,verhaute mich wieder. Tat so, als war nichts. Wieder daneben. >Angetahan hats mir der Weiiiin.< Falsch. Schluß. Der Vater drückte mir die Hand auf den Kopf. Von vorn. Es gelang nicht beim dritten Mal und nicht beim vierten. Alles ruckte auf den Bänken herum, machte die Rücken gerade, reckte und streckte sich, tupfte Kuchenkrümel von der Tischdecke. Noch immer sprach niemand ein Wort.
    Noch ens, sagte der falsche Großvater. Das Geburtstagskind saß in seinem bequemen Lehnstuhl, bewegungslos, die Augen irgendwo übers Scheunendach hinaus in den hohen Himmel gerichtet. Ich spielte ein fünftes Mal. Noch ens. Ein sechstes Mal. Jedesmal stauchte mir der Vater den Kopf ein Stück tiefer zwischen die Schultern. Waat, bes mer doheem sin, fauchte die Mutter. Die Tanten steckten die Köpfe zusammen, tuschelten, warfen der Mutter höhnische Blicke zu. Die Männer lagen wieder schnarchend über den Bänken oder stierten wie der falsche Großvater über die Scheunendächer. Unter

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