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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Hufe wieder einrenkte.
    Im Frühherbst, an seinem siebzigsten Geburtstag, wollte der falsche Großvater Resultate hören. Die Stunden bei Honigmüller waren bestellt. Am Montag nach den Heiligen Drei Königen schleppte ich das Ding in das Dachgeschoß seines Hauses unweit der Kirche.
    Kind, sagte der Organist, ein langer, dünner Mensch, der, was er auch tat, den Eindruck erweckte, als drehe und wende er sich unablässig in sich und um sich selbst. Kind, sagte er und schlang die dunkelblauen Hosenbeine und Jackettärmel zu endlosen Spiralen, Kind, das ist doch viel zu schwer für dich. Das nächste Mal komme ich zu dir nach Hause. Aber das ist doch wirklich ein schönes Akkordeon. Honigmüller schnellte Arme und Beine auseinander, nahm das Instrument in seine Arme und brachte ein paar mächtige Akkorde heraus. Ich aber hörte nur eines: Akkordeon, Akkordeon. Der Quetschebüggel hieß Akkordeon. Akkordeon war der Name für Quetschebüggel.
    Während ich mich mit dem Klang des neuen Wortes anfreundete, holte Honigmüller aus dem Instrument heraus, was es nur hergab, ließ es donnern und blitzen, schelten und schmeicheln,trillern und tremolieren, brummen und summen, grollen und rollen, trällern und tirilieren. Alles Menschenmögliche tat er, um mein Herz zu erobern. Aber das hielt die Geige besetzt. An Abfall, Umkehr, Untreue war nicht zu denken. Was auch immer Honigmüller spielte, die Töne drangen nur bis ins Ohr, wo sie geduldet wurden, aber nicht geliebt, nicht einmal wohlgelitten. Gewiß, Honigmüller spielte »Stille Nacht< und >Es ist ein Ros entsprungen<, es verbanden sich die quäkenden, winselnden Töne zu Melodien, Melodien, die ich liebte. Doch so dumm klang das alles, und der Abstand zu den Männern auf den Holzbänken am Madepohl war bedrohlich klein. Auch wenn sich das Gerät Akkordeon nannte, was noch großartiger klang als Orgel: es blieb häßlich und gewöhnlich. Die großspurige Bezeichnung bewirkte das Gegenteil. Man mußte ja nur hinsehen auf dieses plumpe Ding, sein faltiges Hin und Her, seine Klobigkeit, seine dürftige Sammlung von Tasten und Knöpfen, Fülle vortäuschend und Wohlklang. Armselige Prächtigkeit für kleine Leute, eingespannt in zwei lederne Griffe wie Handschellen überm Gelenk.
    Dennoch, ich lernte gern. Allein um des Lernens willen. Nicht Quetschebüggel, sondern Akkordeon. Die Cousine war gescheitert. Ich wollte es allen zeigen. Meine Abneigung gegen den Akkordeonton blieb bestehen, doch ich fand Gefallen daran, Töne hervorzubringen und zu Melodien zu verbinden. Schnell lernte ich Noten lesen, und bald spielte ich kleine Stücke, die Honigmüller eigens für mich komponierte, wie mir schien. Sobald ich die wichtigsten Griffe beherrschte, überreichte er mir unter vielfachen Verdrehungen seiner Arme einen DIN-A4-Bogen, den er eigenhändig mit Notenlinien und Noten versehen hatte, aus denen eine Melodie erklang, so prächtig und hehr, daß ich mich mit dem Akkordeon zu versöhnen begann. Ich zog, drückte und kniff das gewachste, gefalzte Papier, preßte Tasten und Knöpfe, wie es meinem Zeitmaß entsprach, je langsamer, desto lieber. Honigmüller ließ mich gewähren, saß auf dem moosgrünen, mit Häkeldeckchen übersäten Samtsofa, das die Bürgermeisterfamilie noch vor dem Krieg ausrangiert hatte, und hielt seinen Blick auf den Pflaumenbaum gerichtet, der schon dicke Knospen zeigte. Manchmal kam der Großvater, den Wintermantel überm Schlafanzug, die Treppe hinunter und hörte ein Weilchen zu.Wieder und wieder spielte ich die eine Melodie, bis ich mich aus dem klammen Wohnzimmer, das nur für diese Stunde kurz vorher geheizt worden war, hinausgespielt hatte und hinein in das Kapellchen am Rhein vor das Bild der Muttergottes. Meine Schultern schmerzten nicht mehr, und ich hörte den keuchenden Luftzug nicht. Mir war leicht und feierlich zumute. Bis Honigmüller mir das Akkordeon von den Schultern nahm, so, wie er mir am Anfang hineingeholfen hatte, und mit einem seltsamen Glanz auf seinem dünnen, gelben Gesicht sagte: Das war nach Bach, mein Kind. Das nächste Mal geht es nach Buxtehude. Mit diesen rätselhaften Worten ließ er mich stehen und eilte in langen gewundenen Schritten aus dem Hause. Wieso nach Bach und das nächste Mal nach Buxtehude, wo der Hase immer den Wettlauf mit dem Igel verlor?
    Das ging so einige Wochen, nach Bach, nach Buxtehude, mitunter nach Prätorius oder nach Riga. Dat höt sesch jo an wie bei ner Beerdijung, hieß es, wenn ich zu Hause übte.

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