Das verborgene Wort
Kellertür. Neben seinem Fahrrad fand man, sorgfältig mit derben, dick verstaubten Baumwollhandtüchern abgedeckt, das Akkordeon. Unversehrt, wie ich es in den Stangenbohnen zurückgelassen hatte.
A pin. Is it a pin? It is a pin!
Siegessicher stach das Fräulein Funke eine Nadel in den Klassenraum. Meine Augen saugten sich an dem roten Köpfchen fest, als käme von dort die Offenbarung, die Auflösung dieses Wunders, daß ein und dasselbe Ding einmal Stecknadel hieß und einmal pin. Englisch, sagte die Englischlehrerin. Inglisch.
Pig, warf sie uns entgegen, nestelte aus ihrem Beutel, einer schwarzen Häkelmasse mit roten und grünen Pompons, einen rosa Gegenstand, pig, jubilierte sie, pig, pig, pig, und schwenkte ein Sparschwein, daß die Münzen klingelten.
Abwechselnd hielt das Fräulein die Linke mit der pin, die Rechte mit dem pig in die Höhe und taufte die Welt um.
A pin? Is it a pin? It is a pin.
Warum das Ding links pin, rechts pig, die pin nicht pig und pig nicht pin hieß, konnte mir Fräulein Funke nicht erklären. Deut-sehe sagten Schwein, Engländer pig, Stecknadel wir, die anderen pin. Warum nur? Warum? Palm stört den Unterricht, trug Fräulein Funke ins Klassenbuch ein.
Pater Vater, mater Mutter, lux Licht - über >Schott< und Gebetbuch hatte ich herausgekriegt, daß ein und dieselbe Sache mal so und mal so belautet wurde. Warum, konnte mir auch auf der Mittelschule niemand sagen. Sprachen lernen war Glaubenssache. Pin = Stecknadel mußte man glauben wie Jesus auferstanden von den Toten. Pig = Schwein so unumstößlich wie: >Du sollst nicht töten<. Nur gut, daß auch die Engländer Dingwörter, Tätigkeits- und Eigenschaftswörter, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatten, genau wie wir.
A pin, a pig, a pen. Wir hielten unsere Füllfedern in die Luft und skandierten: Öh pän. Is it öh pän? It is öh pän!
Pän, sagte ich zu meiner Füllfeder, starrte sie an und wartete. Pän, pän. Füller, Füller. Nichts geschah. Der schwarze Kolbenfüllhalter blieb, was er war, zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger meiner linken Hand. Nichts änderte sich, wenn ich ihn, pän in die rechte, Füller in die linke Hand nahm. Pin, pig, pen, Füller: a Pelikan is a Pelikan is a Pelikan. Das Ding behielt die Oberhand. Die Wörter prallten an ihm ab. Sie konnten ihm im geringsten nichts anhaben.
Oder doch? War ein pig nicht putziger als ein Schwein, auch wenn dies sich noch so sehr auf rein reimte? Wälzte sich ein Schwein in seinen Zisch- und Lippenlauten nicht fett und dreckig im Schlamm, leichtfüßig von pig, pig, pig umtrippelt? Schmeckte milk nicht kühler und schärfer als die deutsch-weiche Milch? Ragte ein tree nicht höher und schlanker in den Himmel als ein Baum mit seinen soliden Wurzeln, in seiner Krone raunend der Wind?
Kock öh duudel du! schrie ich unseren Hahn an. Noch als ihn Onkel Schäng auf den Hauklotz legte, blieb der bei seinem Kikeriki. Daß Menschen verschieden sprachen, entschieden sie selbst. Aber Tiere? Krähten englische Hähne wirklich anders als deutsche?
Mitunter war man sich einig. >Bush<, sagten die Engländer, >haus< oder >schu:<, auch wenn ihre Rechtschreibung abenteuerlich war, Glaubenssache; Willkür zum Dogma erklärt.
Und die englische Mutter war selbst im Wort so unzuverlässig wie die deutsche in Wirklichkeit mit ihrem >o< fürs Auge, das ein >a< war fürs Ohr!
Die englische Verbindung zwischen Sehen und Hören gehorchte anderen Gesetzen als die der deutschen Welt. Auf die richtige Aussprache kam es an. Man mußte sie lernen, wie man den Sinn der Wörter lernen mußte. Ich fragte nicht mehr >wai< und nicht >warum<. Why, wai, warum? Darum. Ich hörte und gehorchte.
Wochenlang war ich dem Vater aus dem Weg gegangen. Nun suchte ich ihn.
Abends, wenn er im ölverschmierten Blaumann das Gartentor aufstieß und seine Aktentasche - lappiges Leder, blinde Schlösser, die Nähte mit Pechdraht geflickt - von der Querstange seines Fahrrads nahm, fing ich ihn ab.
Pig, schrie ich ihm entgegen. A pig. Is it a pig? It is a pig. Rannte um ihn herum und lachte, ein freudloses, bösartiges, erwachsenes Lachen. A pig, a pig, a big, big pig. Ohne von mir Notiz zu nehmen, lief der Vater mit versteinertem Gesicht zu seinen Werkzeugen und schlug die Tür hinter sich zu. Warum klopfte mir das Herz bis in den Hals? Nicht nur pig, jedes neue Wort schrie ich ihm entgegen, und das Herzklopfen nahm kein Ende. Verkroch er sich im Stall, gellte ich ihm von draußen mein tägliches
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