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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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den Tischen krakeelten die Kinder zwischen den Beinen der Erwachsenen herum.
    Ich schüttelte die Hand des Vaters aus dem Nacken und spielte Akkordeon. Nach Bach. Das erste Stück, das mir Honigmüller beigebracht hatte. Langsam, langsam, hoch und hehr. Kaum merklich beugte sich der falsche Großvater vor, als wolle er besser hören. Einer nach dem anderen setzten die Männer sich aufrecht. Ein paar Frauen falteten die Hände im Schoß. Die Kinder krochen unter den Bänken hervor und glotzten entgeistert. Nach Buxtehude. Nach Verdi. Nach Bach. Alles, was mir einfiel. Auf den Gesichtern der Festgesellschaft lag eine Ruhe, die nicht nur von der Verdauung zu schwerer Speisen rührte. Über Onkel Männs Gesicht liefen Tränen.
    Dat es jo hie wie op ner Beerdijung, platzte die Mutter in die Stille und lachte verlegen, laut, Beifall heischend.
    Heldenjedenkdach, röhrte die Tante aus Stipprich. Jerti, mer han Doosch. Und mit ihrem kräftigen Alt, der bei der >Linden- wirtin< nicht hatte zum Zuge kommen können, schmetterte sie: >Bier her, Bier her, oder wir falln um, juchhe!< Die Männer fielen ein, hieben im Takt die Fäuste auf den Tisch, daß die Likör- und Schnapsgläschen hüpften.
    Ruhe! Der falsche Großvater machte mit der Rechten eineherrische Bewegung über die Bankgemeinde, musterte jeden einzelnen. Mich würdigte er keines Blickes. Jerti, wandte er sich an meine Cousine, hol Bier. Näm de Jupp mit. Breng dat Fäßje. Tünn, häs de de Trööt do? Tünn hatte. Während der Vater mit Gerti abzog und sich der musikalische Schützenbruder auf seiner Trompete neben dem falschen Großvater breitbeinig zu Gehör brachte, rutschte ich von der Bank und schlich, über mein Akkordeon gebeugt, das mich gewaltig nach unten zog, in den Garten, da hin, wo die Stangenbohnen ein dichtes Spalier bildeten, einen grünen, duftenden Bohnenwald. Hier wollte ich es noch einmal spielen, all das Hehre und Heilige nach Bach, nach Buxtehude, nach Verdi. Von weitem, nicht lauter als fernes Hundegebell, klang die siegreiche >Lindenwirtin, du juhunge< aus Tünns Tröte. Es ging mich nichts mehr an. Doch noch einmal spielen konnte ich hier nicht. Im Stehen kippte ich, sobald ich die Arme öffnen wollte, mit der Masse des Instruments nach vorn. Setzte ich mich auf den Boden, war mein Oberkörper so kurz, daß ich es nicht aufziehen konnte. Ich preßte das Akkordeon zusammen. Nur nie wieder hinaus aus dieser dämmrigen, warmen Umschlingung der Pflanzen. Hart und fest und für sich lag das Instrument an meiner Brust, in meinem Schoß, in meinen Armen. Eine Weile hatten ihre Gesichter fast so ausgesehen wie in der Kirche. Vielleicht tat ich ihm Unrecht, und es war wirklich ein Akkordeon. Nach Bach, nach Buxtehude, nach Verdi. Aber wir paßten nicht zusammen. Jedenfalls nicht, solange es Quetschebüggel hieß.
    Onkel Männ stöberte mich schließlich in den Bohnen auf. Se sööke desch övverall, sagte er, ergriff meine Hand mit Zeigefinger und Daumen und drückte sie zwischen seinen Handtellern, die sich rauh, rissig und kühl anfühlten wie die Borke alter Bäume. Wortlos schüttelte er meine Rechte und ließ ein Fünfmarkstück darin wie einen Sterntaler. Ich steckte es in den Schuh.
    Bei den Bänken ging es nun hoch her. Zu der Trompete war noch eine Posaune gekommen, man sang und tanzte, nur der falsche Großvater thronte in seinem Stuhl. Nur jut, dat esch dir nit extra en Jeije jekoof han, sagte er zum Abschied. Seine Hand, die sonst immer eine Münze, manchmal auch einen Schein in die meine drückte, war leer.
    Als es bemerkt wurde, saßen wir schon in der Straßenbahn. Wo häs de dann dä Quetschebüggel jeloße, fragte die Mutter und schaute zwischen ihre Beine, die des Vaters, die meinen. Er war da, wo ich ihn hatte stehenlassen: in den Stangenbohnen. Da ging es ihm besser als mir. Nach Bach, nach Buxtehude und nicht nach Hause.
    An diesem Abend zog der Vater zum ersten Mal den Gürtel aus der Hose: Du jehs jo jitz op de Meddelscholl. Dann fuhr er mit dem Fahrrad zurück nach Rüpprich, wo der falsche Großvater noch immer dasaß und ein Haufen Männer grölend über den Bänken hing. Reihe für Reihe suchte der Vater die Stangenbohnen ab. Das Akkordeon war weg. Er fragte die Frauen, er fragte die Männer. Keiner hatte das Akkordeon gesehen. Auch ein abermaliges Herausziehen des Gürtels brachte das Instrument nicht wieder zum Vorschein. Jahre später erhängte sich Onkel Männ in seinem winzigen Haus im Bergischen Land am Eingang zur

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