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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Schlafzimmer, das jetzt, ohne das Bett des Großvaters, seltsam geräumig wirkte. Ich bestand darauf, den Topf ans Flurfenster zur Straße zu stellen. Alle sollten diese herrliche Pflanze sehen. In unserem Haus. >Markt und Straßen stehn verlassen / Still erleuchtet jedes Haus.< Ich setzte mich mit dem Lesebuch auf die Treppe vor das Alpenveilchen, >... alles sieht so festlich aus<. Ich saugte mich in den Blüten fest, heftete meine Blicke auf den Topf in der grünen Kreppmanschette, als könne ich ihn dort festkleben.
    Am zweiten Weihnachtstag legte die Mutter mein bestes Kleid heraus. Ich hatte die Cousine aus Rüpprich einmal darum beneidet, jetzt ließen sich die Ränder unter den Achseln auch mit Benzin nicht mehr entfernen. Eng hielt ich die Oberarme an den Körper gepreßt.
    Kurz nach elf, jetzt war das Hochamt zu Ende, die Herrschaften würden um halb zwölf zu Hause sein, rief mich die Großmutter in die Küche, drückte mir ein Milchkännchen in die Hand und rückte einen Stuhl vor den Tisch: Dat es dä Börjerme- ster. Da jehs de jitz dropp zo, määs ene Knix und jüss däm de
    Blom. Op huhdüksch [42] . Der Bruder, die Mutter, die Großmutter bildeten Spalier; ich ging vom Spülstein zum Stuhl: Herr Bürgermeister, ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches, neues Jahr. Und ich bedanke mich. Streckte die Unterarme mit einer Bewegung aus den Ellenbogen vor und setzte das Milchkännchen auf den Tisch. Der Bruder kicherte. Die Mutter sagte: Noch ens, du häs dä Knix verjässe.
    Ich lief noch einige Male vom Spülstein zum Stuhl, knickste und dankte, knickste und dankte, dann holte die Großmutter das Alpenveilchen und wickelte es wieder sorgfältig in das Seidenpapier vom Blumenladen, das sie sauber gefaltet aufgehoben hatte. Ich sah die Pflanze nicht mehr an. Leider war in diesem Winter keine meiner Cousinen aus ihrem Wintermantel herausgewachsen. Meine Röcke raffte ich mit einem Gummiband hoch, Schoppen nannte man das, sollte der Saum nicht wie bei Kackallers Katti unterm Mantel hervorschaun.
    Ein Mädchen mit weißen, steifen Spitzen im Haar, ähnlich den Tortendeckchen, die in Haases Schaufenster unter Buttercreme und Schwarzwälder-Kirsch hervorblitzten, öffnete mir die Haustür, fragte mich, wer ich sei, und wollte mir den Topf aus der Hand nehmen. Ich hielt ihn fest. Sie lachte: Ich will doch nur das Papier wegmachen. Das gehört sich so. Und gib mir dein Mäntelchen. Sie griff nach der Blume, ich machte die Knöpfe auf, schob das Gummi rasch nach unten über die Füße, verhedderte mich, das Mädchen stand da, sah zu, sah weg, ich stopfte das Gummi in die Unterhose. Es war warm in der Diele, ganz wie bei Doris in Dodenrath. Das Mädchen öffnete eine Tür und gab mir einen Schubs.
    Eine tiefe Männerstimme lud mich ein, näher, noch näher zu kommen, und ich ging, wie vorher vom Spülstein zum Stuhl, auf die Stimme zu. Der Weg war aber viel weiter und weicher, dann plötzlich klackten die Sohlen auf hartem Holz. Ich schrak zusammen. Aus dem mächtigen Sessel am anderen Ende des Raumes erhob sich ein Mann, kleiner als das Ledermöbel ihn hatte scheinen lassen. Die Frau neben ihm blieb sitzen. So nah war ich Walburga noch nie gekommen.
    Walburga hatte es mit den Nerven. Wenn es jemand im Dorf mit den Nerven hatte, konnte man damit alles meinen, vom chronischen Nägelbeißer bis zum ausgewachsenen Psychopathen. Die Fäden ihrer Seele sind verwirrt, hatte Schwester Bertholdis gesagt, als es wieder einmal schlimm um Walburga stand. Ich stellte mir ihr Inneres wie einen Wollstrang vor, der, nicht ordentlich zum Knäuel gerollt, völlig durcheinandergeraten war. Mit unendlicher Geduld mußte Walburgas Seele wieder auseinandergefisselt werden. Verfilzten sich dabei die Fäden zu sehr, mußte man sie durchschneiden. Aber Walburga hatte es nicht nur mit den Nerven. Sie bekam Zustände. So, daß sie plötzlich zu singen begann, Kirchenlieder, mit einer feinen, hohen Stimme, so süß, daß die Tante vom vornehmen Teil aus Miesberg, als sie einmal zu Besuch war und an dem Fenster vorbeiging, hinter dem Walburga sang, stehenblieb und der Engelsstimme, wie sie sich ausdrückte, mit offenem Mund und geschlossenen Augen zuhörte. Er war das letzte Lied aus dem Hochamt, das durch die Scheiben der Jugendstilvilla klang, >Das Grab ist leer, der Held erwacht, der Heiland ist erstandene Wir versuchten, die Tante weiterzuziehen. Nach ein, zwei Kirchenliedern würde Walburga

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