Das verborgene Wort
ein paar Augenblicke fest ihre Hand auf den Fuß.
Und das ist für dich, mein Kind, sagte Walburga, ergriff meine Hand und legte, weiß der Himmel, woher sie es hatte, ein Markstück hinein. Damit du nicht mehr weinst. Walburga hielt meine Hand zwischen Daumen und Zeigefinger der ihren, die wie ein aufgepumptes, bleiches Gummitier aussah, und kehrte meinen Handteller nach oben. Er war rot und grün vom Pflanzensaft. Sie starrte ihn an, starrte mir ins Gesicht mit ihren dunklen, fast schwarzen Augen, als hätte sie alles begriffen.
Fröhliche Weihnachten, mein Kind, sagte sie, ihre Stimme klang jetzt dunkel und rauh, und der Bürgermeister, der schon in der Tür stand, stutzte, kam zu uns zurück, faßte Walburga beim Arm und tätschelte sie wie ein Pferd, das man zur Ruhe bringen will. Mit einem Glöckchen, silbrig wie das Halleluja-Stimmchen seiner Frau, läutete er nach dem Dienstmädchen. Das Geldstück fühlte sich feucht und krank an. Ich hätte es am liebsten fallen lassen.
Reizend, liebes Kind, ein wunderschönes Blümchen, das du uns da gebracht hast. Nicht wahr, Walburga? Seine gepflegte Hand umspannte ihren Oberarm, drückte zu und ließ erst locker, als Walburga mit Silberstimme beipflichtete.
Und zu Ostern mußt du uns dein Zeugnis zeigen. Es ist eine Ermessenssache. Vergiß das nicht, mein Kind. Ich wußte nicht, was eine Ermessenssache ist, aber das zweimal scharf gezischte >ss< machte mir angst.
In der Diele half mir das Hausmädchen in den Mantel, stellte mich zwischen ihre Knie und schloß mir die Knöpfe, einen nach dem anderen, als wäre ich noch ein ganz kleines Kind.
Besser, ich hätte das Alpenveilchen bei Walburga gelassen, dachte ich später. Es hatte ja in ihrer gezüchteten Wildnis keine einzige Blume geblüht.
Schon vor denen aus der kalten Heimat gab es Müppen im Dorf. Kackallers. Weit über die Grenzen Dondorfs hinaus berüchtigt. Vom Sehen kannte ich einige von ihnen, und Katti war mit mir in einer Klasse gewesen. Die vielköpfige Familie lebte von der Wohlfahrt. Gelegenheitsarbeiten mochte dem Oberhaupt, einem dürren Mittvierziger, längst niemand mehr anvertrauen. Kackaller trank, was er kriegen konnte. Woher er es immer wieder bekam, beschäftigte das ganze Dorf, wenn er lallend und fluchend um den Gänsemännchenbrunnen vorm Rathaus torkelte, unfähig, die Richtung nach Hause einzuschlagen, bis ihm der Dorfpolizist Beine machte. Hatte er wirklich Verbindung zu einem Schiffer von den Rheinkähnen, die Schwarzgebranntes verkauften? Und selbst wenn, woher nahm er das Geld dazu? Kackallers kam die Wohlfahrt in Naturalien zugute. Die Gemeinde ernährte und kleidete sie. Nur zu Ostern und Weihnachten gab es ein bißchen Geld in die Hand. Kackallers waren Müppen, aber sie gehörten zum Dorf, wie das schwarze Schaf in eine Sippe rechtschaffener Leute gehört. Hie süht es us wie bei de Kackallers, war das Höchstmaß an Abscheu und Verachtung gegenüber Schmutz und Unordnung. Wie aber sah es bei den Müppen aus?
Im zweiten Realschuljahr machten wir unsere erste Klassen-fahrt in die Eifel. Wer etwas auf sich hielt, gehörte einer Clique an, Bund nannten wir das. Ich zählte zum >Bund der weißen Raben<. Nachts stiegen wir aus dem Fenster und verkrochen uns in den Büschen bei der Jugendherberge, einer mittelalterlichen Burg. Wir spielten das Wahrheitsspiel. Führten es durch mit Ernst und Aufrichtigkeit, als stünden wir vor den Thronen des Jüngsten Gerichts. Hast du schon einmal einen Toten gesehen? Wen? Hast du schon einmal einen Toten angefaßt? Hast du schon einmal etwas gestohlen? Liebst du deine Mutter? Liebst du deinen Vater? Wen könntest du umbringen? Und wir spielten das Wagemutspiel. Wollten Heldinnen sein, wollten, daß das Leben endlich begänne. Das Leben als Heldentum. Ich beteiligte mich nur halbherzig. Was war denn schon dabei, auf dem Jungenklo pinkeln zu gehen oder Salz und Zucker zu vertauschen? Was war so aufregend an Elfis, Ediths, Ingrids Brustknospen? Was der Reiz von Billas nackten Hinterbacken, die sie entblößen mußte, weil man sie beim Lügen ertappt hatte? Wozu sollte ich in einer Reihe mit den anderen an ihr vorbeimarschieren und einen Schlag auf den hingestreckten Po versetzen? Ich mochte das picklige Gänsehautfleisch kaum berühren. Verglichen mit dem, was ich aus den Büchern kannte, war alles, was sich meine Freundinnen unter dem Leben vorstellten, erbärmlich. Bis Irmgard Lückfett fragte: Und wer traut sich zu den Dondorfer Kackallers? Sich
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