Das verborgene Wort
in den Jungenschlafsaal schleichen und in jedes Bett einen spitzen Stein, ja. Im Dunkeln allein am Kirchhof vorbei, wo die Totenkerze aus der Leichenhalle schimmerte, wenn einer drinlag, ja. Doch in Kackallers Bude wollte keine. Zum ersten Mal bei diesem Spiel klopfte mein Herz, als läse ich die letzten Seiten einer Mörderjagd. Durch die alten Bäume im Burghof fuhr der Wind. Noch hing das Laub in den Zweigen, herbstlich raschelnd, schon nachgiebig. Ich würde zu den Kackallers gehen.
Nachts hatte es in Strömen geregnet. Hinter dünnen Wolken hing die Sonne wie ein fahler Mond. Der Weg zu Kackallers war nicht asphaltiert. Matsch schmatzte unter den Kreppsohlen meiner guten Schuhe, gelbes Schweinsleder, das ich um Himmels willen nicht mit diesem Modder in Berührung bringen wollte. Breitbeinig stakste ich zwischen den Pfützen auf die Baracke zu,ein windschiefer Holzbau, von Teerpappe zusammengehalten. Schon von weitem trug mir der Wind in an- und abschwellenden Stößen Radiomusik entgegen. Um das Haus herum lagen Papierfetzen, alte Zeitungen, zerbrochene Schüsseln, Teller, durchlöcherte Töpfe, gesplittertes Glas, Bretter mit krummen, rostigen Nägeln, ein zerbeulter Kinderwagen ohne Räder, eine Matratze, aus der zwei Sprungfedern spießten wie die Suchrohre eines U-Boots, aufgeweichte Pappkartons, gequollene Wellpappe. >... bin ja nur ein Troubadours röhrte es aus dem Haus. Ich sog den Duft des sauer vergorenen Pappellaubs, das den Müllfleck mit schütterem Gold bedeckte, tief ein. Aus dem Haus schrillten Kinderstimmen: Jäff* her, loß los. Etwas ging polternd zu Boden. Eine Frauenstimme, ein brüllender Mann. Ruhe. Herrjottverdammesch. Ich bekreuzigte mich. Die Musik wurde lauter. >Ich bin ja nur ein Troubadour und ziehe singend durch das Land.< Geigen überschlugen sich, der Gesang ging in kehliges Gelächter über. Die Haustür war nur angelehnt. Ich stieß sie auf. Kackallers verteidigten ihre vier Wände mit Gestank.
Auch bei uns zu Hause konnte man oft noch am anderen Morgen riechen, was wir am Vortag gekocht hatten, besonders im Winter, wenn es Grün-, Rot-, Weiß- und Sauerkohl in fettigen Mehlsoßen gab, die Fenster aber aus Sparsamkeit nur kurz und kaum einen Spaltbreit geöffnet wurden. Oft stanken Nachttöpfe durchs Haus. Doch waren die Gerüche zu Hause, selbst in ihren abstoßenden Mischungen, immer unterscheidbar, benennbar gewesen. Und wenn die Großmutter Pflaumenmus machte, ihren Platz buk oder das Sonntagsfleisch briet, duftete es auch lecker.
Kackallers Gestank legte ein Sperrfeuer zwischen die Bewohner des Hauses und die Außenwelt, einen Minengürtel, signalisierte Feindschaft, Tücke, schreckte ab wie Totenschädel und gekreuzte Gebeine auf einer Giftflasche oder auf den graugrünen Eisenkästen der RWE. Hochspannung, Lebensgefahr. Ich versuchte, durch den Mund zu atmen. Die Gerüche schienen sich in schlierige Absonderungen zu verfestigen, die ich schlucken mußte, wollte ich nicht ersticken. Ich würgte, sog wieder Luft
gib durch die Nase, als ich über einen Gegenstand stolperte und aufschrie. Niemand hörte mich. Der Lärm schwoll an, je näher ich der Tür kam. Durch einen Ritz schimmerte Licht. >Komm doch bitte nach Tahiti, nach Tahiti mit mir. Dort am Strande von Tahiti, von Tahiti bin ich glücklich mit dir.< Säuglingsgeschrei setzte ein, das auch die auf volle Lautstärke gedrehte Sängerin nicht übertönen konnte. >Nach Tahiti, nach Tahiti!< brüllte plötzlich eine Männerstimme. Etwas fiel zu Boden, kullerte. Dreckskääl, kreischte eine Frau. Wo häs de die ald widder her. Paß leever op, dat dat Füür nit usjeht. Do steht de Zupp dropp.
War die Wette nicht gewonnen? War ich nicht bis ins Haus vorgedrungen? Ich stieß die Tür auf. >Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt<, sang die Stimme, die vorhin behauptet hatte, sie sei ein Vagabund, Hahahaha. Ich stand im Türrahmen und wagte nicht, mich zu rühren. Frau Kackaller saß am Tisch, in jedem Arm ein Kind. Dort, wohin das dünne Licht der Glühbirne überm Küchentisch nicht reichte, duckten sich Jo und Katti. Vier jüngere Kinder hockten gegenüber an der Wand in einem Haufen alter Zeitungen. Aus kleinen Betten unterm Fenster wimmerte es matt. Alle Blicke waren auf den Mann gerichtet, der am Kopfende des Tisches saß. Er stierte mit blutunterlaufenen Augen zum Radioapparat, der auf übereinandergestapelten Kisten stand.
Und dann brach es los. >Bella, bella, bella Maries gab der Vater den Einsatz.
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