Das verborgene Wort
Mehrstimmig, in allen Tonlagen, fiel die Sippe ein: >Bleib mir treu, isch komm zurück morjen früh. Bella, bella, bella Marie, verjiß misch nie.< Der Sänger machte eine Pause, die Geigen übernahmen die Führung. Vater Kackaller nickte mir zu: Metsenge! Ohne zu stocken, sangen Katti, Jo, Vater und Mutter, zwei der Kleinen den Schlager von der ersten bis zur letzten Zeile lauthals mit. Bella, bella, bella Marie, gab mir Vater Kackaller mit einer grandiosen Bewegung seiner Rechten den Einsatz. >Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh<, schmetterte ich: >Bella, bella, bella Marie, vergiß mich nie.< Aufsässig war der Gesang, der Schlager nur Vorwand, nur Funke, der ein Feuer auflodern ließ, das verzehren wollte, was im Weg war. Widerstandslos, bereitwillig, ließ ich mich ergreifen. Selbst Feuer und Flamme, spürte ich, wie blindwütiger Haß mir in die Augen schoß, Haß auf die in den pelzgefütterten Stiefeletten, den spit-zengesäumten Petticoats, Wildlederjacken; Persianerkappen, Hütchen, Schühchen, Täschchen passend. Für die Dauer einer >Bella Marie< machte mich dieser Haß zu einer von denen, die schon immer unterlegen, verloren, Verlierer waren. Ich teilte ihren Trotz, ihre Wut, ihre Rebellion, spürte ihre Kraft, spürte mich als Teil dieser Kraft, die zwingender wird, je weniger die zu verlieren haben, die sie besitzen. Eine ziel- und zügellose, bedenkenlose Kraft, aber eine Kraft doch. Ich stand an Deck des Schiffs mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen, und ich sagte Hoppla, als der Kopf des Brauereibesitzers fiel, Hoppla, als der Kopf des Bürgermeisters fiel, Hoppla, als der Kopf des Fabrikanten rollte. Alle Strophen wurden gesungen, wie in der Kirche. Vater Kackaller hatte einen kräftigen Tenor, gut für Honigmüllers Chor.
Die Wand, die mich und meine Familie von den Kackallers trennte, war dünn. Aber sie hielt. Ich hatte >Meerstern, ich dich grüße< zu singen gelernt und nicht >Bella Marie<. Das genügte. Während wir gemeinsam sangen, schien die Luft leichter, der Raum heller und wärmer geworden zu sein. Erst als der Gesang in Grölen überging, war der Gestank wieder da, dieses undurchdringliche Gemisch aus den Ausdünstungen ungewaschener Körper und Kleider, Essensresten, die sich im Spülstein zersetzten, und einem Topf, aus dem unter klapperndem Deckel beißender Dampf quoll. Nach Fusel und Kotze roch es aus der Ecke, wo Katti und Jo sich schon wieder in den Haaren lagen, nach verkackten Windeln, die sich neben dem Säugling türmten, der in einer der Kisten lag, mit denen Gärtner Bender im Frühjahr Setzlinge transportierte.
Wat wells du dann he? Die Frau am Tisch hatte dunkles Haar, das ihr in fettigen Strähnen auf die schmuddelige Strickjacke fiel. Ihre hellen, grauen Augen stachen in die meinen. Sie sah jung aus und alt zugleich. Oben fehlten ihr die Vorderzähne, unten stand nur noch ein halber. Sie grinste, die vollen Lippen über den leeren Gaumen gespannt. Dat wor dä Kääl do, sie zeigte auf ihren Mann. Wenn dä ze vell süff. Sie warf den Kopf in den Nacken und machte eine Bewegung mit der Rechten zum Mund, Gesten, die ich von der Großmutter kannte, wenn sie vom Lumpensammler sprach. Daß Väter schlugen, war normal. Aber doch nur
Kinder. Daß ein Vater die Mutter schlug, konnte nur bei den Müppen passieren. Un dat jefällt dem och noch, dä Sau, fuhr die Frau fort, strahlend, als hätte sie ein großes Lob empfangen. Sie richtete sich auf. In jedem Arm ein schlafendes Kind, eine Art doppelte Muttergottes. He well nit, dat esch nom Zahnarz jonn. He sät, dovun krett mer wenijstens ken Kenger. Grinsend aus dem schwarzen Loch heraus, warf sie ihrem Gegenüber verliebte Blicke zu. Der saß, das Kinn auf eine fast leere Flasche Wermut gestützt, den Kopf in beide Hände vergraben und grunzte. War das der Mann, der eben noch mit starker Bella-bella-bella- Stimme seine Familie und mich singend gen Süden dirigiert hatte? Er trug einen dicken Mantel in schwarzem Fischgrätmuster, offen über der Brust. Die Brust war nackt und bis zum Halsansatz dicht und rot behaart.
Dat es doch dat Heldejaad. Katti hatte sich von ihrem Bruder befreit und kam aus der Ecke ins Licht.
Tach. Ihre rechte Hand schoß aus einer speckigen, zerschlissenen Decke, die sie sich um die Schultern gehängt hatte, auf mich zu. So hatten wir nicht gewettet. Ich hatte die Kackaller Müppen gerochen, gesehen, gehört. Von Anfassen war nicht die Rede gewesen. Katti stand da mit ausgestreckter Hand.
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